Illustration von Viren unter dem Mikroskop
nobeastsofierce – stock.adobe.com
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Inverse Impfungen

Zukunftshoffnung für MS und Diabetes

Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose (MS) und Typ-1-Diabetes könnten künftig mit inversen Impfungen behandelt werden. Diese schwächen im Gegensatz zu klassischen Impfungen das Immunsystem. Der Ansatz hat theoretisch das Potenzial, Betroffene sogar komplett zu heilen – der Weg bis dahin ist aber noch weit.

Klassische Impfungen trainieren das Immunsystem darauf, gefährliche Viren, Keime und veränderte körpereigene Zellen zu erkennen und unschädlich zu machen. Bei Autoimmunerkrankungen ist das Immunsystem der Betroffenen jedoch ohnehin bereits gestört, es greift eigentlich gesunde Zellen an und beschädigt so körpereigenes Gewebe und Organe.

Das Immunsystem durch klassische Impfungen noch weiter anzuregen, wäre als Therapie bei Autoimmunerkrankungen wie MS, Lupus, rheumatoider Arthritis oder Diabetes-Typ-1 daher kontraproduktiv. Hier könnte künftig aber eine neue Strategie zum Einsatz kommen: die inversen Impfungen.

Umgekehrte Wirkung

Im Gegensatz zu klassischen Impfungen sollen die inversen Impfungen die Immunantwort gezielt und kontrolliert schwächen und den Körper so daran hindern, sich gegen eigentlich gesunde und harmlose Zellen zu richten. „Also man möchte quasi eine schon bestehende Immunreaktion löschen“, erklärt die Immunologin Nicole Boucheron von der medizinischen Universität Wien (MedUni Wien) gegenüber science.ORF.at.

Nützliche T-Zellen werden zur Gefahr

Dass sich der Körper von Autoimmunerkrankten selbst angreift, liegt vor allem an einer gestörten Funktion ihrer T-Zellen. In einem gesunden Immunsystem spielen sie mehrere wichtige Rollen: „Sie können sich in zytotoxische T-Zellen verwandeln, die dann virusbefallene Zellen oder Tumorzellen abtöten“, sagt Boucheron. „Oder sie werden zu Helfer-T-Zellen, die für die Koordination der Immunantwort verantwortlich sind.“

Im Fall einer Autoimmunerkrankung sind es aber auch genau dieselben zytotoxischen T-Zellen, die körpereigene Strukturen und gesunde Zellen angreifen. Die Helfer-T-Zellen halten die Immunantwort aufrecht, solange die vermeintliche Gefahr nicht beseitigt wurde. Äußern kann sich das unter anderem in langanhaltenden und wiederkehrenden Entzündungsphasen. „Für Patientinnen und Patienten mit einer Krankheit wie zum Beispiel MS werden die eigentlich sehr wichtigen T-Zellen leider oft zur Gefahr“, so Boucheron.

Inverse Impfungen im Tierversuch

In der Forschung sind die T-Zellen daher schon lange ein wichtiger Ansatzpunkt. Sie auf irgendeine Weise umzuschulen und damit bestimmte Immunreaktionen auszuschalten, wird laut Boucheron schon seit rund zwanzig Jahren mit verschiedenen Ansätzen versucht. Auch in den aktuell laufenden Untersuchungen zu den inversen Impfstoffen versuchen Forscherinnen und Forscher die T-Zellen dahingehend zu trainieren, dass sie harmlose Partikel im Körper tolerieren und nicht weiter gegen sie vorgehen.

Ein Forschungsteam von der University of Chicago (USA) hat einen neuen vielversprechenden Ansatz vor Kurzem an Mäusen getestet. Bei den Tieren wurde im Labor eine MS-ähnliche Krankheit hervorgerufen, bei der die T-Zellen die schützende Myelinschicht um die Nerven angreifen.

Aus früheren Untersuchungen wusste das Forschungsteam bereits, dass das kurze Zuckermolekül pGal (N-Acetylgalactosamin) von Abwehrzellen toleriert wird. Die Forscherinnen und Forscher gingen daher davon aus, dass auch andere an pGal gekoppelte Moleküle sinngemäß das Etikett „nicht angreifen“ erhalten.

Erfolgreiche MS-Therapie bei Mäusen

Im Rahmen einer im September veröffentlichten Studie kombinierte das Forschungsteam verschiedene Myelin-Eiweiße mit pGal und injizierte sie den erkrankten Mäusen. Nach der Behandlung mit dem inversen Impfstoff stellte das Immunsystem der Nager die Angriffe auf das Myelin ein. Die für MS typischen Krankheitssymptome wie Mobilitätsprobleme, Sehverlust und Lähmungen gingen zurück.

Das US-Team konnte aufzeigen, dass die Behandlung mit dem inversen Vakzin nicht nur bei der Prävention von Autoimmunerkrankungen Erfolg verspricht – die inversen Impfungen wirkten auch bei bereits bestehenden Erkrankungen. Jene Mäuse, die einige Tage nach dem Versuchsstart behandelt wurden, wiesen ebenfalls eine sehr niedrige Krankheitsaktivität auf. Während der 50-tägigen Studie konnte die inverse Impfung einen Rückfall auch bei jenen Mäusen mit der schubförmigen Variante der MS-ähnlichen Krankheit verhindern.

Noch viele Unklarheiten

Mit dem Ansatz könnten daher nicht nur neue Präventionstherapien entstehen, die vor dem Aufkommen einer Autoimmunerkrankung schützen – die inversen Impfungen haben durch ihre besondere Wirkungsweise theoretisch sogar das Potenzial, bereits erkrankte Personen komplett zu heilen. „Das wäre natürlich der Idealfall“, so Boucheron. Bis es so weit ist, sei aber noch viel Forschungsarbeit nötig.

„Bei MS weiß man schon einiges über die Vorgänge im Körper, die für die Krankheitssymptome verantwortlich sind. Bei anderen Autoimmunerkrankungen gibt es aber noch recht viele Unklarheiten“, so Boucheron. Den Ansatz der inversen Impfungen daher schon jetzt als Allheilmittel für alle Patientinnen und Patienten mit MS, Lupus, Arthritis oder Diabetes-Typ-1 zu präsentieren, wäre laut der Immunologin verfrüht.

Standardimpfstoff oder personalisierte Behandlung

Jeder Impfstoff müsse demnach an die jeweilige Krankheit, aber auch zum Teil an das individuell oft stark variierende Immunsystem der Patientinnen und Patienten angepasst werden. Dabei ist es laut der Immunologin alles andere als einfach, bei der Behandlung immer die richtigen Strukturen im Körper anzuzielen. Ein möglicher Ansatz: „Idealerweise wird es irgendwann einen inversen Impfstoff pro Autoimmunerkrankung geben, der einmal verabreicht wird und dann später vielleicht aufgefrischt werden muss“, so Boucheron.

Aufgrund der vielen individuellen Unterschiede sei es aber auch denkbar, dass die Behandlung mit inversen Impfstoffen künftig Teil der personalisierten Medizin wird. Demnach müssten bestimmte Impfstoffe eventuell direkt an die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten angepasst werden.

Mehr Tests an Menschen nötig

„Aus heutiger Sicht ist es noch schwer abzuschätzen, wie die beste Behandlung mit den inversen Impfungen aussehen wird“, so Boucheron. Um das zu klären, seien noch umfangreiche Untersuchungen mit dem Impfstoff des US-Forschungsteams nötig. Im Rahmen von Autoimmunerkrankungen wurde der neue Ansatz bisher nur im Tiermodell getestet. In naher Zukunft sollen erste Versuche an Menschen mit MS folgen.

Ein anderer Ansatz basierend auf einem DNA-Impfstoff wurde bereits bei der schubförmigen Variante von MS in einer Phase-II-Sicherheitsstudie an Menschen getestet und zeigte, dass die inversen Impfungen grundsätzlich wirken. „Eine gewisse Vielfältigkeit der Ansätze ist notwendig, um die sehr komplexen Immunkrankheiten künftig erfolgreich bekämpfen zu können“, so Boucheron.

Hilft auch gegen Allergien

Die inversen Impfstoffe könnten künftig aber nicht nur zur Therapie und eventuellen Heilung von Autoimmunerkrankungen dienen. Eine weitere Phase-I-Sicherheitsstudie gab es etwa schon bei Patientinnen und Patienten mit Zöliakie, bei der die Einnahme von Gluten zu einer Entzündung der Dünndarmschleimhaut führt. Auch hier arbeiteten die Forscherinnen und Forscher mit dem Zuckermolekül pGal. „Es ist also durchaus denkbar, dass man die inversen Impfungen irgendwann auch zur effektiven Behandlung von Allergien und Unverträglichkeiten nutzen kann“, so die Immunologin.

Wann die ersten inversen Vakzine im klinischen Alltag verfügbar sein werden, sei derzeit nur schwer abzuschätzen. Auch Boucheron wollte sich auf kein konkretes Jahr festlegen, aber: „Wenn es in den anstehenden Phase-1-Studien und den Untersuchungen danach zu keinen unvorhergesehenen Problemen kommt, könnten die ersten inversen Impfungen in den kommenden fünf bis zehn Jahren auf den Markt kommen.“