Statue von Immanuel Kant vor der Universität in Kaliningrad
Gabriele Thielmann / imageBROKER / picturedesk.com
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300. Geburtstag

Kant-Jahr 2024: Eine schwierige Erinnerung

2024 ist auch das Jahr von Immanuel Kant. Der deutsche Philosoph wurde vor 300 Jahren, am 22. April 1724, im preußischen Königsberg geboren. An diesem Ort schrieb er seine wegweisenden philosophischen Schriften und verließ ihn nie. Im Gedenkjahr wird das nun zum Problem – denn Königsberg ist heute Kaliningrad und liegt in Russland.

Der russische Angriffskrieg widerspricht Kants Vorstellungen von Krieg und Frieden diametral, sagt die Philosophin Violetta Waibel von der Universität Wien. Sie sitzt im Vorstand der Internationalen Kant-Gesellschaft und hat den internationalen Kant-Kongress 2015 in Wien organisiert. Wie das Kant-Jubiläum nun abläuft und warum eine Beschäftigung mit Kant trotz Inkonsequenzen in seinem Werk auch heute noch wertvoll ist, erklärt Waibel im ORF-Interview.

science.ORF.at: Frau Professor Waibel, ursprünglich hätte der Jubiläumskongress im April in Kaliningrad stattfinden sollen. Es wird dort zwar einen geben, aber nicht jenen der Kant-Gesellschaft …

Violetta Waibel: Ja, denn nach dem 24. Februar 2022 war schnell klar: Die Art und Weise, wie Russland die Ukraine angegriffen hat, ist so gegen den Geist Kants, dass die Kant-Gesellschaft beschlossen hat, den Jubiläumskongress 2024 woanders stattfinden zu lassen – in Bonn.

Warum ist Russlands Krieg so gegen den Geist Kants?

Waibel: Na ja, Kant ist auch der Autor der Schrift „Zum ewigen Frieden“ von 1795. Darin hat er nachgedacht, was die immer wieder auftretenden Gründe für Kriege sind und wie sie zu einem Stillstand gebracht werden können. Er hat darin eine Reihe faszinierender Gedanken entwickelt. So war die ideale Verfassung eines Staates für ihn die Republik – das entspricht weitgehend dem, was eine gut funktionierende, moderne Demokratie ist. Und dann war seine Idee, dass es einen Staatenbund geben müsse, in dem man sich durch Verträge verbindet. Es hat zwar noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg gedauert, aber die EU ist genau ein solcher Bund, der Kriege verhindert. Und die einzige Art des Krieges, von der Kant sagt, dass sie erlaubt werden muss, ist, sich gegen einen Angriffskrieg zu verteidigen. Das ist ein genialer Gedanke. Denn wenn sich alle an dieses Gebot halten, gibt es keinen Krieg mehr. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine steht Kants Idee vom ewigen Frieden diametral entgegen.

Angeregt wurde Kant zum Titel seines Werks durch das Schild eines Friedhofswirtshauses, auf dem „Zum ewigen Frieden“ stand – eine Friedhofsruhe hat er aber nicht gemeint?

Waibel: Nein, der Titel ist sehr ambivalent – und ironisch. Es gibt den ewigen Frieden in den Gräbern. Und darin liegen auch die Gefallenen der Kriege. Kant will aber an den Punkt kommen, wo wir als Lebende den ewigen Frieden schaffen. Wobei er an keiner Stelle fordert, dass es keine Konflikte, Streitigkeiten, Differenzen geben dürfe. Dafür ist er zu sehr Pragmatiker. Menschen haben immer unterschiedliche Interessen. Deswegen braucht man Wege, wie man sie friedlich koordinieren kann – das war sein Standpunkt. Kant hat etwa empfohlen, dass man miteinander wirtschaftlich, künstlerisch etc. kooperieren soll, um sich näherzukommen. Wenn es Streitigkeiten gibt, dann sollen sie durch Verhandlungen ausgetragen werden. Auch in unseren modernen Demokratien haben wir erst lernen müssen, dass wir vielleicht völlig anderer Meinung sind, aber uns deshalb nicht die Köpfe einschlagen.

Kant-Grab beim Dom von Kaliningrad
AFP – PATRICK HERTZOG
Ewiger Frieden für Kant: Sein Grab am Dom von Kaliningrad

Das heißt in Konsequenz auch die Notwendigkeit einer unabhängigen Gerichtsbarkeit und eines Internationalen Gerichtshofs für Konflikte auf Länderebene, die es ja auch weiterhin geben wird?

Waibel: Ja, wobei Kant so weit nicht explizit gedacht hat. Aber er hat den Rahmen für solche Ideen geschaffen. Für die Republik hat er die Gewaltenteilung vorgesehen, die wir ja auch heute haben: Exekutive, Legislative und Judikative. Und das darf man natürlich auf Föderationen übertragen. Kant hat auch darüber nachgedacht, ob es einen Sinn machen könnte, eine Weltrepublik zu bilden. Es gibt Interpreten von Kant, die das befürworten. Aber so wie ich ihn verstehe, hielt er eine Weltrepublik für viel zu gefährlich, denn dann konzentriert sich letztlich alles auf eine oberste Instanz. Und das ist immer sehr gefährlich. Denn es braucht Kontrollorgane. Wir können ja mittlerweile dabei zuschauen, wie diese Kontrollorgane in vielen Ländern ausgeschaltet werden – Zug um Zug und auf legalem Wege. Insofern war Kants Empfehlung, Föderationen zu gründen statt einer Weltrepublik, sehr weitsichtig.

Zurück zum Kant-Jahr: In Bonn wird nicht nur die Jubiläumskonferenz stattfinden, es gibt in der dortigen Bundeskunsthalle bereits eine Ausstellung mit dem Namen „Kant und die offenen Fragen“. Dabei geht es natürlich um seine berühmten Fragen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“, aber nicht nur. Es geht auch um antisemitische, rassistische und sexistische Stellen in seinem Werk …

Waibel: Ja, darüber wird gerade sehr viel geforscht und diskutiert. Und es stimmt und ist sehr traurig: Kant war nicht immer der Mann, der die Schrift „Zum ewigen Frieden“ geschrieben hat. So war er davor der Meinung, dass Krieg ein Weg ist, um Konflikte zu lösen. In der „Kritik der Urteilskraft“ sprach er sogar von der „Erhabenheit des Krieges“. Da dreht es einem den Magen um, wenn man so wie ich sehr pazifistisch aufgestellt ist. Es gibt auch sehr viele Aussagen von Kant, die gegen bestimmte Nationen, gegen bestimmte Religionen, gegen Juden usw. sind. Aber: In der Friedensschrift erklärt sich Kant ganz eindeutig gegen jede Form von Kolonialismus. Denn er plädiert für ein Weltbürgerrecht, das erlaubt, dass wir überallhin auf dieser Erde friedlich reisen dürfen. Wir haben aber kein Recht, dort zu bleiben. Und wenn wir bleiben wollen, dann müssen wir einen besonderen Vertrag mit den dort Ansässigen schließen. Und das war ganz klar gerichtet gegen all jene, die Kolonien gebildet und die Völker vor Ort getötet haben.

Aber Kant hat sich nicht immer so geäußert?

Waibel: Nein, er hat einen Lernprozess durchgemacht. Sein gesamtes systematisches Denken – seine Theorie der Vernunft, der Moralität und einer Rechtlichkeit, die auf dieser Moralität gründet – ist das, was am Ende herauskommt. Aber Kant ist halt leider auch jemand, der historisch in einer bestimmten Zeit geboren und mit Vorurteilen befrachtet ist. Er hat die Spannungen offenkundig nicht immer bemerkt, in denen er selbst steht, wenn er irgendwo dies und später etwas anderes sagt. Es schockiert mich immer wieder ein bisschen, dass Kant noch 1798 die „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ zur Publikation gegeben hat. In dieser Schrift stehen eine ganze Reihe von Dingen drin, bei denen man sich fragt: Warum, lieber Immanuel Kant, haben Sie das nicht noch einmal genau durchdacht? Das stimmt doch überhaupt nicht mit dem überein, was Sie mit Ihren moralphilosophischen Schriften, auch mit der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik der Urteilskraft und mit der Rechtsphilosophie erreicht haben!

Kant schreibt in der „Anthropologie“ etwa: „Wir finden Völker, die in der Vollkommenheit der menschlichen Natur nicht fortzuschreiten scheinen, sondern einen Stillstand gemacht haben, da andere, als in Europa immer fortschreiten“. Heute würde man sagen: Das ist Rassismus.

Waibel: Ja, wenn man diese Schrift liest, und ich habe das sehr intensiv mit meinen Studierenden getan, sieht man, wie stark veraltet viele Teile sind. Kant hat sein ganzes akademisches Leben lang die Vorlesung über Anthropologie gehalten, und die ist offenbar sehr gut bei den Studierenden angekommen. Auch weil sie nicht so schwierig war wie die Metaphysik- oder die Logik-Vorlesung, die er auch angeboten hat. Ich erkläre mir das so, dass Kant dabei bestimmte Teile über viele Jahre beibehalten und nicht mehr systematisch durchdacht hat. An manchen Teilen merkt man, dass er neue Überlegungen eingebaut hat, an anderen nicht. So sind enorme Spannungen in dem Werk Kants entstanden. Ich würde sagen, jeder, der wie Kant eine Systemtheorie macht, steht vor der unglaublichen Herausforderung der eigenen Geschichtlichkeit, des eigenen Werdens, der Abhängigkeit von der Gesellschaft, in der man lebt, aber auch des Lernwegs, den man selbst durchläuft. Ich halte Kants systematische Gedanken weiter für überaus wichtig. Aber man darf und soll nicht verschweigen, dass er sich selbst in einigen Dingen heftig widersprochen hat. Diese Spannungen muss man austragen.

Das betrifft auch Kants Äußerungen zu Frauen. Würden Sie das ähnlich skizzieren, wie Sie das jetzt zum Kolonialismus gemacht haben?

Waibel: Ein bisschen ähnlich, aber mit einer gewissen Variante. Kant ist der Denker, der von der menschlichen Vernunft spricht, von dem kategorischen Imperativ, von der Notwendigkeit und Allgemeinheit, die wir in unserem moralischen Urteilen finden müssen, wenn wir uns unsere Handlungsmaximen vorstellen. Und das hat er natürlich von jedem Menschen gefordert. In seiner Rechtsphilosophie hat er dann aber konkret über Geschlechter nachgedacht. Das macht er im klassischen Kontext von Ehe und Familie und bleibt dabei stark an den traditionellen Rollen haften. Wie andere Denker der Aufklärung spricht er nur Männern das aktive Bürgerrecht zu und überlässt es nicht den Frauen, selbst zu entscheiden, ob sie denn überhaupt heiraten und eine Familie gründen wollen. Abgesehen davon, dass man diese Rollen völlig anders aufteilen kann, denkt Kant auch nicht über die finanziellen und anderen Abhängigkeiten von Frauen nach, sondern schreibt sie fort.

Kant spricht auch von der „natürlichen Überlegenheit des Mannes gegenüber der Frau“ und dass „mühsames Lernen oder peinliches Grübeln“ alle „Vorzüge“ des schönen Geschlechts zerstören.

Waibel: Kant hat leider kein sehr freundliches Bild von Frauen, den Weibern. Schon erstaunlich, was man aus der angeblichen Gleichheit aller Menschen herauslesen kann. Ganz bestimmt zählt er nicht zu jenen, die die Gleichberechtigung, und schon gar nicht auf Augenhöhe, auch nur angedacht haben. Immerhin fordert er explizit von Männern und Frauen, dass sie nur dann Kinder zeugen dürfen, wenn sie für diese auch sorgen. Die Gesellschaftsordnung forderte also, dass man heiratet, wenn Kinder unterwegs sind. Implizit, wenn auch nicht ausdrücklich, wendet er sich damit gegen die Haltung der damaligen Gesellschaft, dass Frauen alleine die Schuld zu tragen haben für außerehelich gezeugte Kinder. Aber auch Kant sagt meines Wissens nicht explizit, wie für Kinder gesorgt werden soll, die unehelich geboren werden und deren Väter sich aus dem Staub machten. Frauen durften ja nicht eigenständig erwerbstätig sein und waren zudem als unehelich Gebärende gesellschaftlich geächtet, was viele Frauen in ihrer tiefen Verzweiflung dazu trieb, zur Kindsmörderin zu werden oder ins Wasser zu gehen.

Das führt letztlich zur Frage des Universalismus. Kant beruft sich zwar auf „die“ Vernunft, schließt zugleich aber viele Gruppen von den Segnungen dieser Vernunft aus. Nicht wenige Studierende wollen Kant und andere alte weiße Männer, die ähnlich argumentierten, heute gar nicht mehr lesen. Können Sie dem etwas abgewinnen?

Waibel: Ich denke, das hieße, das Kind mit dem Bade ausschütten. Mir geht es darum, genau hinzuschauen und all diese Spannungen, die ja eigentlich mit Kants Systematik nicht zusammenpassen, herauszuarbeiten. Seine Grundideen sind nach wie vor sehr gut, und wenn ich von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit spreche, dann gilt das für alle Menschen. Und unser Problem ist ja nicht, dass Kant selbst nicht immer konsequent war in dem, was „alle Menschen“ heißt. Unser Problem ist vielmehr, dass wir diese Ideen schon lange kennen, zum Teil sind sie Bestandteil von Verfassungen – sie aber nicht eingehalten werden. Es ist unser und nicht Kants Problem, dass wir noch immer nicht über seinen Schatten gesprungen sind und das, was er systematisch sehr gut herausgearbeitet hat, zu unserer Lebensgrundlage gemacht haben.