Illustration, die die Forschungsergebnisse symbolisch darstellt
Sayo Studio
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Uralte DNA

„Zeitmaschine in Geschichte Europas“

Neue Analysen von Tausende Jahre altem Erbgut geben überraschende Einblicke in die Geschichte Europas: Sie zeigen, wie sich Krankheitsrisiken verbreiteten, warum Menschen im Norden oft größer sind als im Süden, und vieles mehr. Uralte DNA sei wie „eine Zeitmaschine“, so ein österreichischer Evolutionsgenetiker und Mitautor der nun im Fachjournal „Nature“ erschienenen Studien.

Vom Baikalsee im heutigen Sibirien bis zur Atlantikküste im Westen Europas und von Skandinavien bis in den Nahen Osten: Aus diesem riesigen Gebiet stammen die Funde prähistorischer Skelettreste, die Grundlage für die vier Studien sind.

Ein internationales Forschungsteam um die Evolutionsgenetiker Eske Willerslev und Martin Sikora von der Universität Kopenhagen und Morten Allentoft von der Curtin-Universität in Australien analysierte uraltes Erbgut aus den Knochen und Zähnen dieser Funde. Die DNA von 317 Individuen – großteils aus dem Mesolithikum und der Jungsteinzeit – wurde erstmals isoliert, zudem wurde für das Forschungsprojekt bereits vorhandenes uraltes Erbgut von mehr als 1.300 weiteren Individuen herangezogen.

aDNA

Uralte DNA – fachsprachlich aDNA (von englisch: ancient DNA) – ist DNA, die zumindest über 100 Jahre alt ist, etwa Reste von Erbgutmolekülen aus toten Organismen. aDNA birgt u. a. Informationen über die menschliche Evolution und die prähistorische Tier- und Pflanzenwelt.

Uralte DNA ist wie ein Fenster in längst vergangene Zeiten. Erst im vergangenen Jahr sequenzierte ein Forschungsteam, dem auch Willerslev und Sikora angehörten, die älteste jemals gefundene DNA: Das aus dem Boden im nördlichsten Grönland extrahierte Erbgut war zwei Millionen Jahre alt.

Mit neuen Genomen „Löcher gestopft“

Die vier nun im Fachjournal „Nature“ veröffentlichten Studien sind das Ergebnis „langer und intensiver Forschungen, an denen Hunderte Kollegen und Kolleginnen beteiligt waren“, so Sikora im Interview mit science.ORF.at. Seine wissenschaftliche Karriere begann der Österreicher an der Universität für Bodenkultur (BOKU) in Wien, nach Studien- und Forschungsaufenthalten an den Universitäten Pompeu Fabra in Barcelona und Stanford in den USA forscht er seit 2014 an der Universität Kopenhagen.

„Mit den 317 neuen Genomen konnten wir viele Löcher stopfen – in Regionen und Zeitaltern, aus denen wir bisher wenige Information hatten“, so Sikora. Die ersten Proben für den umfangreichen Datensatz seien bereits vor über zehn Jahren entnommen worden, die letzten vier Jahre sei er selbst intensiv mit der Analyse und Interpretation der Ergebnisse beschäftigt gewesen.

„Uns interessieren die 0,1 Prozent“

In der ersten Studie des Forschungsprojekts wird der umfangreiche Datensatz präsentiert und werden Wanderungsbewegungen untersucht, die laut dem Forschungsteam „tiefgreifende und dauerhafte Auswirkungen auf die genetische Vielfalt“ der Bevölkerung hatten. Durch ihn lässt sich die Ausbreitung von Genen über Tausende von Jahren und quer über die Landkarte Europas verfolgen.

Drei große Wanderungen

Die genetische Vielfalt der modernen europäischen Bevölkerung wurde durch drei große Wanderungsbewegungen geprägt: die Ankunft von Jägern und Sammlern vor ca. 45.000 Jahren, die Ausbreitung von Bauern aus dem Nahen Osten vor ca. 11.000 Jahren und die Ankunft von Hirten aus der Pontischen Steppe vor ca. 5.000 Jahren.

„Uralte DNA ist wie eine Zeitmaschine, die uns zeigt, welche genetische Varianten wann und wo zuerst auftraten oder häufiger wurden“, so Sikora. „Wenn man zwei Genome von Menschen sequenziert, dann sind sie zuerst einmal 99 oder 99,9 Prozent identisch. Aber diese 0,1 Prozent, in denen sie sich unterscheiden, das ist das, was uns interessiert. Das sind genetische Variationen, die vererbt werden, und dadurch können wir nachvollziehen, wie nah zwei Menschen miteinander verwandt sind, und dadurch in weiterer Folge rekonstruieren, wie sich diese Migrationen in früheren Zeiten ausgebreitet haben.“

Der Datensatz ist Grundlage für drei weitere Studien, die die Folgen unter die Lupe nehmen, die diese Wanderungsbewegungen auf den Genpool der Europäerinnen und Europäer bis heute haben, etwa wie sich ein Gen, das das Risiko, an Multipler Sklerose (MS) zu erkranken, erhöht, in Europa verbreitete.

Die Autoimmunerkrankung des Nervensystems kommt im Norden Europas am häufigsten vor. Wann und warum dieses erhöhte Risiko entstand, war bisher unklar. Ein Team um William Barrie von der Universität Cambridge, dem auch Willerslev, Sikora und Allentoft angehörten, verglich in dieser Studie die uralte DNA mit Erbgut aus der UK Biobank, einer Datenbank, die anonymisierte Informationen zu Genetik, Lebensstil und Gesundheit einer halben Million Briten und Britinnen enthält.

Risikogen „wanderte“ bis Nordeuropa

Die Analyse zeigte, dass das Risikogen von Hirten aus der Pontischen Steppe – aus der Kultur der Jamnaja – in Europa verbreitet wurde. Vor 5.000 Jahren schützte es sie davor, sich bei ihren Schafen und Rindern mit Krankheiten anzustecken. „Diese genetische Variation, die heute für uns in Form eines erhöhten Risikos für MS Nachteile bringt, hat damals den Vorteil gebracht, das Immunsystem stärker zu aktivieren“, erzählt Sikora. Heute sei die Situation eine völlig andere: Durch verbesserte Hygiene, Medikamente und Impfungen stellen die Krankheiten, gegen die die Genvariante ursprünglich schützte, kein Problem mehr dar.

Der Mann von Porsmose ist eine jungneolithische Moorleiche, die im Jahr 1946 bei Næstved auf der dänischen Insel Seeland gefunden wurde. Der Mann wurde durch mehrere Pfeiltreffer getötet. Die Überreste des Mannes von Porsmose werden im Dänischen Nationalmuseum aufbewahrt.
Dänisches Nationalmuseum
Der Mann von Porsmose: eine Moorleiche aus der Jungsteinzeit, die 1946 auf der dänischen Insel Seeland gefunden wurde. Er wurde durch mehrere Pfeiltreffer getötet. Seine Überreste werden im Dänischen Nationalmuseum aufbewahrt – seine DNA ist Teil des Forschungsprojekts.

Die Forscherinnen und Forscher konnten die geografische Ausbreitung des Risikogens von seinen Ursprüngen in der Pontischen Steppe über den europäischen Kontinent verfolgen. Weil die Hirten vor allem nach Nordeuropa wanderten, ist die Wahrscheinlichkeit, an Multipler Sklerose zu erkranken, heute dort am höchsten.

„Diese Ergebnisse haben uns alle verblüfft“, so Barrie in einer Aussendung der Universität Cambridge. Sie seien „ein Quantensprung in unserem Verständnis der Entwicklung dieser und anderer Autoimmunkrankheiten“ und zeigen „den engen Zusammenhang zwischen den Auswirkungen der Lebensweisen unserer Vorfahren und heutigem Krankheitsrisiko“.

Warum Menschen in Nordeuropa größer sind

Das umfangreiche Forschungsprojekt zeigt also, wie Wanderungsbewegungen von vor Tausenden von Jahren lebenden Völkern Auswirkungen auf die genetischen Merkmale der heutigen Europäerinnen und Europäer haben. Eine weitere Studie ergab, dass Menschen im Osten Europas einen höheren Anteil an DNA von Jägern und Sammlern haben und, damit verbunden, ein erhöhtes genetisches Risiko für Typ-2-Diabetes und Alzheimer.

Und auch einer der Gründe, warum heute lebende Menschen im Norden Europas oft größer sind als im Süden, lässt sich aus der uralten DNA herauslesen: Die Größenunterschiede haben ihren Ursprung – ebenso wie das erhöhte Risiko für Multiple Sklerose – bei den oft großgewachsenen Hirten aus der Pontischen Steppe, die vor etwa 5.000 Jahren nach Europa wanderten. Sie ließen sich vergleichsweise öfter im Norden als im Süden des Kontinents nieder. Und das sehe man bis heute, so Sikora, „weil in Nordeuropa der Anteil der DNA, der von diesen Hirten abstammt, größer ist als in Südeuropa“.

Neben den Ergebnissen zu Wanderungsbewegungen und Krankheiten, die einen Meilenstein der Forschung darstellen, zeigt das umfangreiche Projekt laut Sikora auch, was sich mit neu entwickelten Analysetechniken aus uralten DNA-Daten herauslesen lässt. Sehr viele neue Methoden seien zum ersten Mal in großem Stil angewendet worden. Und das führe zu weit genaueren Ergebnissen, als bisher möglich gewesen sei, so der Evolutionsgenetiker: „Deshalb wurden es auch am Ende auch vier Studien. Da war einfach zu viele Neues für nur eine einzige.“