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alotofpeople – stock.adobe.com
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Studie

„Gesunder Menschenverstand“ ist individuell

Der „gesunde Menschenverstand“ gilt für viele als kleinster gemeinsamer Nenner: vermeintlich selbstverständliche Aussagen und Urteile, auf die sich die meisten einigen können. Forscher wollten nun wissenschaftlich erfassen, was der Begriff bedeutet – und stellten fest, dass sich dies von Mensch zu Mensch unterscheidet.

Ob Alltagsdiskussionen oder politische Debatten: Ist jemand so fest von der Vernunft seines Ansinnens überzeugt, dass das Vorbringen von Argumenten – so vorhanden – überflüssig erscheint, wird gerne der Satz „Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand“ ins Spiel gebracht. Dabei wird davon ausgangen, dass die jeweilige Ansicht von den meisten Menschen geteilt wird. Der Begriff, auch „Hausverstand“, beinhaltet zudem eine pragmatische, von Lebenserfahrung geleitete Sicht der Dinge.

Vierzehn Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind beispielsweise davon überzeugt, dass man sich "mehr auf den ‚gesunden Menschenverstand‘ als auf wissenschaftliche Studien verlassen soll“ und bringen damit ihre Skepsis gegenüber der Wissenschaft zum Ausdruck, wie eine aktuelle Umfrage zeigt.

Der Begriff – im Englischen common sense – werde so häufig verwendet, dass man vermuten könnte, seine Bedeutung und Verwendung seien eindeutig, so das Forschungsteam der Universität Pennsylvania in den USA. Doch das Gegenteil sei der Fall: Das, was der eine unter „gesundem Menschenverstand“ versteht, könne für die andere etwas ganz anderes sein. Common sense sei möglicherweise für jeden Menschen individuell, heißt es in der Studie, die nun im Fachjournal „PNAS“ veröffentlicht wurde.

Dreiseitige Dreiecke und Alkohol bei Sportevents

Weder was unter „gesunder Menschenverstand“ verstanden wird, noch ob darunter fallende Behauptungen und Urteile tatsächlich allgemeingültig sind, sei „eindeutig geklärt“, schreiben die Studienautoren Mark Whiting und Duncan Watts von der Universität Pennsylvania in den USA. Ihr Plan: „Gesunden Menschenverstand“ messbar machen. Dazu erstellten sie eine Fallstudie mit 4.407 Aussagen aus den unterschiedlichsten Themenbereichen – von philosophischen Ideen bis zu faktischen Aussagen über die Welt, wie etwa:

  • „Dreiecke haben drei Seiten.“
  • „Alle Menschen sind gleich.“
  • „Zahlen lügen nicht, wir sollten immer auf die Mathematik vertrauen.“
  • „Wahrnehmung ist die einzige Quelle des Wissens. Was nicht wahrgenommen wird, existiert nicht.“
  • „Bildungschancen müssen für alle gleich sein.“
  • „Lebe als ob du morgen sterben würdest. Lerne als ob du ewig leben würdest.“
  • „Eine Batterie kann nicht ewig Energie liefern.“
  • „Bei Sportveranstaltungen sollte Alkohol für Fans eingeschränkt werden.“

Von allen 4.407 Aussagen sei in der Vergangenheit in unterschiedlichen Quellen behauptet worden, sie seien common sense, heißt es in der Studie. 2.046 Personen sollten beurteilen, ob sie mit den Aussagen übereinstimmten und ob diese aus ihrer Sicht allgemein akzeptiert seien.

Geringe Übereinstimmung

Die Studie ergab, dass Menschen sehr unterschiedlich wahrnehmen, welche Aussagen dem „gesunden Menschenverstand“ entsprechen. Auf die allermeisten Aussagen konnte sich nur eine jeweils sehr geringe Anzahl an Probandinnen und Probanden einigen, besonders auf jene, die eher Handlungsanweisungen und Behauptungen darstellten. Am höchsten sei die Übereinstimmung bei „klar formulierten, faktenähnlichen Aussagen über die objektive Wirklichkeit“ gewesen, so die Studienautoren, wie etwa beim Satz „Dreiecke haben drei Seiten“.

Faktoren wie Alter und Geschlecht hatten laut der Studie keinen Einfluss darauf, wie die Menschen common sense wahrnehmen.

Mehr Floskel als Wahrheit

Der „Hausverstand“, von dem oft behauptet wird, er sei universell gültig, kann sich laut Studie von Mensch zu Mensch unterscheiden. Kollektiv sei er „nur in begrenztem Maße vorhanden“, so die Wissenschaftler. Die Studie habe gezeigt, dass nur relativ wenige Behauptungen der traditionellen Definition von gesundem Menschenverstand als „Wissen, das für alle selbstverständlich ist“ entsprachen. Dieses Ergebnis untergrabe Behauptungen über eine etwaige Allgemeingültigkeit von common sense und unterstütze Skeptiker und Skeptikerinnen des Begriffs.

Geht es nach der Studie, sind Aussagen, die dem Begriff zugeordnet werden, also meist weit entfernt von allgemeingültigem und selbstverständlichem Wissen. Viel öfter passen sie in das Weltbild der Person, die den „gesunden Menschenverstand“ bemüht – und das macht den Begriff mehr zum rhetorischen Mittel des Totschlagarguments als zum Ausdruck vernunftorientierten Denkens.