Nerven, Neuronen, Netzwerken
solvod – stock.adobe.com
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Evolution

Wie Viren zur Bildung komplexer Gehirne führten

Viren sind Krankheitserreger und schlecht für die Gesundheit – gleichzeitig sind sie in bestimmten Fällen aber auch überaus nützlich. Vor Millionen von Jahren sorgten sie etwa dafür, dass sich das Erbgut von Wirbeltieren nachhaltig veränderte, was schließlich auch die Bildung komplexer Gehirne ermöglichte.

Die Nervenfasern von Menschen und anderer Wirbeltiere sind mit einer isolierenden Schicht Myelin umgeben. Diese erlaubt es, Nervenreize über große Strecken hinweg schnell und effektiv weiterzuleiten. Nur dadurch waren Wirbeltiere im Laufe der Evolution dazu in der Lage, zu ihrer heutigen Größe heranzuwachsen.

„Ohne Myelin und die Möglichkeit, Reize über weitere Distanzen zu leiten, wären alle Landlebewesen heute maximal so groß wie unser Daumen“, erklärt der Neurowissenschaftler Robin Franklin vom Altos Labs Cambridge Institute of Science (UK) gegenüber science.ORF.at.

Komplexe Nervensysteme ermöglicht

Noch bedeutender für die Entwicklung der Wirbeltiere war aber, dass durch die isolierende Myelinschicht viele dünne Nervenfasern eng aneinandergereiht werden konnten, ohne sich dabei gegenseitig in die Quere zu kommen. Das Myelin war so die Voraussetzung für die Bildung stark verwobener Nervensysteme und damit auch die Basis für die Entwicklung komplexer Gehirne.

Franklin suchte nun zusammen mit einem britisch-französischen Forschungsteam nach den genauen Ursachen, die die Myelinproduktion bei den Vorfahren heutiger Wirbeltiere anregten. Das Ergebnis der Untersuchung präsentierte das Team vor Kurzem im Fachjournal „Cell“.

Viren ausschlaggebend

Die Forscherinnen und Forscher untersuchten die Genaktivität in den Oligodendrozyten – jenen Zellen, die im Körper der Wirbeltiere Myelin produzieren. Dabei interessierten sie sich besonders für nicht-kodierende Regionen, also Abschnitte im Erbgut, die selbst nicht zu Proteinen umgewandelt werden, die aber zum Teil wichtige regulatorische Aufgaben übernehmen.

Bei Untersuchungen mit Ratten entdeckte das Team tatsächlich einen solchen nicht-kodierenden Abschnitt, der die Herstellung eines Myelinproteins regulierte. Hemmten die Forscherinnen und Forscher die entsprechende Region, stoppten die Zellen auch die Produktion des Proteins.

Vergleiche mit anderen Erbgutsequenzen zeigten schließlich, dass diese Regulationseinheit nicht durch Zufall entstand. Laut den Erkenntnissen des Forschungsteams stammt sie eher von urzeitlichen Infektionen mit Retroviren.

Keine Myelinisierung ohne Viren

Retroviren wirken anders als andere gängige Krankheitserreger, weil sie ihre eigene DNA in das Erbgut der Träger einbauen und es so nachhaltig verändern können. „Im Laufe der Evolution haben sich die Wirbeltiere immer wieder mit solchen Viren infiziert“, sagt Franklin. Es sei also häufiger zu virusbedingten Veränderungen im Erbgut gekommen – viele betroffene Regionen verloren im Laufe der Zeit aber ihre Funktion, andere sind hingegen bis heute aktiv.

So auch jene Erbgutregion, die für die Produktion von Myelin ausschlaggebend ist und die Myelisierung, also die Umkleidung der Nervenzellen, antreibt. „Ohne Retroviren gäbe es heute keine Myelinisierung und das Leben auf der Erde würde ganz anders aussehen“, so Franklin.

Mind. 400 Mio. Jahre her

Wann genau eine Infektion mit Retroviren zum ersten Mal die Produktion von Myelin in Wirbeltieren anregte, sei heute jedoch kaum noch exakt zu bestimmen. In weiteren Untersuchungen wies das Team aber nach, dass die dafür nötige Erbgutregion nicht nur bei Säugetieren vorkommt, sondern auch bei allen anderen Klassen von Wirbeltieren mit Kiefer. Bei den kieferlosen Wirbeltieren und wirbellosen Tieren fehlte sie.

Franklin geht daher davon aus, dass die Entwicklung der Kiefer ungefähr zur selben Zeit stattfand, wie der Start der Myelinproduktion bei Wirbeltieren. Er schätzt, dass das mindestens 400 Millionen Jahre her ist.

Voneinander unabhängige Infektionen

Das Team wollte außerdem klären, ob die Bildung von Myelin auf eine einzige Infektion mit einem Retrovirus zurückzuführen ist, oder ob es im Laufe der Evolution mehrere Kontakte mit den dafür verantwortlichen Viren gab. Dazu verglichen die Forscherinnen und Forscher das Erbgut von 22 unterschiedlichen Wirbeltierarten.

Es zeigte sich, dass die für die Myelinproduktion relevanten DNA-Sequenzen bei den verschiedenen Wirbeltierklassen genetisch weit voneinander entfernt waren. Für das Team war das ein klarer Hinweis darauf, dass die heute noch nachweisbaren Infektionen mit Retroviren wahrscheinlich erst stattfanden, nachdem sich die verschiedenen Wirbeltierklassen voneinander getrennt hatten. „Das widerspricht bisherigen Annahmen, dass sich die Myelinproduktion auf einen gemeinsamen Vorfahren aller Wirbeltiere zurückführen lässt“, so Franklin.

Weitere Auswirkungen von Retroviren

Retroviren waren aber nicht nur für die Entwicklung komplexer Gehirne wichtig – in anderen Untersuchungen konnten Forscherinnen und Forscher etwa Hinweise darauf finden, dass bestimmte durch Viren veränderte Erbgutregionen die Bildung der Plazenta unterstützten. Andere vergleichbare Regionen sind außerdem daran beteiligt, männliche Muskeln schneller wachsen zu lassen.

Andererseits gibt es aber auch negative Folgen der durch Viren veränderten Erbgutregionen. Einige von Retroviren stammende Fragmente wurden in früheren Untersuchungen mit einem erhöhten Risiko für Krebs, Demenz und Multiple Sklerose in Verbindung gebracht. Als bekanntestes Beispiel eines heute noch gängigen Retrovirus nennt Franklin das Humane Immundefizienz-Virus (HIV).

Laut dem Neurowissenschaftler ist es außerdem sehr wahrscheinlich, dass Retroviren das Erbgut von Menschen und Tieren auch in Zukunft maßgeblich beeinflussen werden: „Wir infizieren uns immer wieder mit irgendwelchen Retroviren und es wäre sehr ungewöhnlich, wenn sich das in Zukunft nicht auf irgendeine Weise auf unser Erbgut auswirken würde.“