Viele Menschen auf einer Straße, ihre Gesichter sind verschwommen
Getty Images/Classen Rafael/Eyeem
Getty Images/Classen Rafael/Eyeem
Studie

Wertekluft nimmt weltweit zu

Die Wertvorstellungen von Gesellschaften unterscheiden sich einer aktuellen Studie zufolge weltweit zunehmend. In den vergangenen 40 Jahren seien sich Länder im Zuge von Globalisierung, Massenmedien und der Verbreitung von Technologien zwar in vielen Aspekten ähnlicher geworden – kulturelle Werte zählten jedoch nicht zwingend dazu.

Das berichtet ein US-Forschungsteam im Fachjournal „Nature Communications“ über Ergebnisse wiederholter Umfragen unter rund 400.000 Menschen in 76 Ländern.

Demnach haben sich die Wertorientierungen insbesondere für Toleranz und Offenheit in den vergangenen vier Jahrzehnten zwischen Ländern auf verschiedenen Kontinenten auseinanderentwickelt. Innerhalb von Kontinenten wurden sie ähnlicher. Die Daten zeigen auch, dass sich die Wertorientierungen westlicher Länder mit hohem Einkommen besonders von denen anderer Länder unterscheiden.

Eine Theorie besagt den Forschern und Forscherinnen zufolge, dass mit zunehmender Modernisierung und ökonomischem Wohlstand weltweit liberale, individualistische Werte, die persönliche Rechte und Freiheiten betonen, verstärkt übernommen werden. Insbesondere in asiatischen und afrikanischen Ländern ist dieser Zusammenhang aber viel weniger ausgeprägt als im Westen, wie die Studie nun zeigt.

Große Differenzen bei Kindererziehung

Die zunehmende Wertekluft könne Konsequenzen für die politische Polarisierung und internationale Konflikte haben, warnt das Forschungsduo Joshua Conrad Jackson und Danila Medvedev von der Universität Chicago. „Wenn die kulturellen Differenzen bei Einstellungen und Werten zunehmen, die religiöse Intoleranz wächst und gleichzeitig die Bereitschaft zur Kooperation in wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fragen abnimmt, dann können Konflikte innergesellschaftlich oder auch zwischen Gesellschaften stark zunehmen, bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen“, erklärte Roland Verwiebe von der Universität Potsdam, der selbst nicht an der Studie beteiligt war.

Das Autorenduo aus Chicago hatte Daten des World Values Survey zwischen 1981 und 2022 ausgewertet. Erfasst wurden kulturelle Unterschiede bei 40 Werten, verbunden etwa mit Offenheit, Gehorsam und Glauben. Es gebe große Differenzen etwa bei der Beurteilung, wie wichtig es ist, Kinder religiöse Überzeugungen zu lehren und sie zu Gehorsam zu erziehen.

Ähnlicher Wohlstand führt nicht zu ähnlichen Werten

Auch bei anderen Aspekten entwickelten sich westliche und andere Länder deutlich auseinander: Während Menschen in Australien und Pakistan zum Beispiel vor Jahrzehnten Scheidungen gleichermaßen für nicht vertretbar hielten, haben sich ihre Ansichten in entgegengesetzte Richtungen entwickelt, wie Jackson und Medvedev erläutern. Eine ähnliche Entwicklung habe es beim Wert des Gehorsams von Kindern gegeben.

Die Entwicklung von Wohlstand bedeute nicht automatisch eine Angleichung von Werten, so die Forschenden. Dieser sei beispielsweise in Hongkong und Kanada zwischen 2000 und 2020 ähnlich gestiegen, die Akzeptanz von Homosexualität habe aber in Kanada schneller zugenommen. Auf hohe Leistungsbereitschaft von Kindern werde in Kanada inzwischen weniger, in Hongkong hingegen deutlich mehr Wert gelegt.

„Neue Spaltungslinien“

Zwar sehe er Einschränkungen bei der Vergleichbarkeit der Messbedingungen in den einzelnen Ländern, sagte Verwiebe, Professor für Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit. „Gleichzeitig ist aufgrund der Verwendung von sehr vielen Datenpunkten von einer sehr hohen Robustheit der Ergebnisse auszugehen, und die berichteten Trends der weltweiten Divergenz von Werten halte ich für sehr plausibel.“ Es hätten sich neue Spaltungslinien zwischen westlich geprägten, sehr wohlhabenden europäischen Ländern einerseits und asiatischen und afrikanischen Staaten andererseits herausgebildet.

Zudem gebe es eine weitere wesentliche Entwicklung: „Die liberalen Demokratien europäischer Prägung befinden sich weltweit zunehmend in der Defensive, in Teilen nimmt ihre Akzeptanz auch in stark demokratisch geprägten Gesellschaften deutlich ab, etwa in den Niederlanden, Frankreich, den USA und Deutschland.“ Die Demokratie beruhe auf dem Ausverhandeln von Interessendifferenzen, auf Akzeptanz von Meinungsunterschieden. „Ist die Demokratie auf dem Rückzug, nimmt die Intoleranz zu.“