Wanderer auf dem Jamtalferner im Gegenlicht
Matthias Schrader / AP / picturedesk.com
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Gletscherschmelze: Vorsicht bei Wanderungen

Die Gletscher in Österreich schmelzen weiter: Der warme Sommer und der wärmste September der Messgeschichte tragen dazu bei, dass heuer die zweithöchsten Eisverluste erwartet werden. Auch Felsstürze und Steinschläge nehmen zu, wie die beiden Glaziologen Andrea Fischer und Hans Wiesenegger in einem Gastbeitrag berichten – Vorsicht bei Wanderungen in der Nähe von Gletschern sei deshalb geboten.

Auch 2023 sind die Gletscher wieder extrem stark geschmolzen. Hatten wir zu Sommerbeginn noch gehofft, die sechs Prozent Flächenverlust des Vorjahres mögen ein Ausreißer gewesen sein, führten auch heuer überdurchschnittliche Temperaturen in Kombination mit den bereits stark ausgedünnten Gletschern wieder zu großen Verlusten. Das Jahr 2023 dürfte in Österreich wie in der Schweiz, deren Gletscher heuer weitere vier Prozent ihrer Fläche verloren haben, die zweitgrößten Verluste der Messgeschichte gebracht haben.

Wiederum führten eher geringe Schneefälle im Winterhalbjahr in Kombination mit dem lange in den September hinein andauernden hohen Temperaturen zu einer langen Eisschmelze. Laut Alexander Orlik von Geosphere Austria dürfte das Jahr 2023 in Österreich zu den drei wärmsten je gemessenen Jahren zählen.

Über Autorin und Autor

Andrea Fischer ist stv. Leiterin des ÖAW-Instituts für Interdisziplinäre Gebirgsforschung in Innsbruck, Hans Wiesenegger langjähriger Leiter des Hydrographischen Dienstes (HD) des Landes Salzburg.

Der September 2023 war der wärmste der Messgeschichte und hat die Gletscher viel Substanz gekostet. Noch vor wenigen Jahren lag auf den Gletschern im September häufig Schnee, und die Eisschmelze endete im August oder Anfang September. Schon im August war es oft in der Nacht so kühl, dass die Gletscheroberfläche gefroren war und erst gegen elf Uhr mittags wieder auftaute. Heuer hingegen waren die Septembernächte noch so warm, dass die Schmelze auch über Nacht fortdauerte.

Webcam-Aufnahme Urezzasjoch mit Blick nach Nordwesten zum Jamtalferner Gletscher in der Silvretta
Webcam-Aufnahme Urezzasjoch mit Blick nach Nordwesten zum Jamtalferner Gletscher in der Silvretta
ÖAW/foto-webcam.eu ÖAW/foto-webcam.eu
Schiebebild mit Vergleich von 2022 und 2023: Am besonders betroffenen Jamtalferner (Silvretta) sieht man die Ausaperung der höchsten Höhenstufen. Mittlerweile ist ein erheblicher Teil des ehemaligen Akkumulationsgebietes, in dem sich früher Eis gebildet hat, vollständig eisfrei. Der Bereich um Urezzasjoch und Jamjoch im Bild liegt auf etwa 3.000 Meter Höhe. Der See im Bild rechts unten hat sich 2020 zu bilden begonnen und war bis Mitte dieses Jahres noch teilweise mit Eis bedeckt. Der Bildvergleich erfolgt zur maximalen Ausaperung, am Stichtag der Massenbilanz, dem 1.10., lag im Vorjahr schon Schnee.

Viele Gletscher vollständig schneefrei

Insbesondere ganz im Westen Österreichs sind die Gletscher 2023 vollständig schneefrei geworden, damit waren auch die Höhenlagen von der Schmelze betroffen. Das ist insofern kritisch, als dass die Gletscher in den ehemaligen Akkumulationsgebieten, also den oberen Bereichen, ohnehin sehr viel dünner sind als an den Gletscherzungen. Schmelze in den Hochlagen führt dort nicht wie an den Zungen jahrzehntelang zu Ausdünnung bei langsamen Rückgängen, bevor der nunmehr rasche Zerfall eintritt, sondern zu unmittelbaren Flächenverlusten.

So ist das Jahr 2023 an den Zungen durch Zerfallserscheinungen und in den Hochlagen durch rasches Größerwerden von Felsinseln gekennzeichnet. Seit August ist auch eine Zunahme von Felsstürzen und Steinschlagereignissen auf den Gletschern zu beobachten. Dies und die Bildung von großen Hohlräumen und Abbruchkanten im Eis, die zum Teil schwer zu erkennen sind, können neue Gefahren für Bergsteiger und Bergsteigerinnen darstellen.

Vorsicht bei Wanderungen

Durch die rasch einsinkenden Eisoberflächen kommt es derzeit besonders in den Felsrückwänden oberhalb der Gletscher vermehrt zu Felsstürzen, die insbesondere früher vergletscherte Übergänge für Alpinisten und Alpinistinnen schwierig einzuschätzen machen. In den vergangenen drei Wochen ist es in der Nähe von Gletschern immer wieder zu gefährlichen Situationen gekommen.

Um Steinschläge und Felsstürze als Wanderer zu vermeiden, gilt es daher, einige Warnzeichen ernstzunehmen. Geräusche etwa, die einem helfen, solche Gefahrenstellen zu erkennen – das kann je nach Größe des Ereignisses ein Brummen, Rauschen, Knattern oder Rascheln sein. Und wenn man Anzeichen sieht, etwa Einschlagtrichter, frisches, kantiges Gestein oder Staubwolken, dann sollte man eine Tour eher abbrechen.

Ausgeprägte Zerfallserscheinungen am schuttbedeckten Ödenwinkelkees
B. Zagel
Ausgeprägte Zerfallserscheinungen am schuttbedeckten Ödenwinkelkees

Besonders gut sieht man die Bewegungszunahme im Permafrost an den Blockgletschern, das sind gefrorene Schutt- und Eismassen, die sich normalerweise mit Geschwindigkeiten von etwa fünf bis zehn Metern pro Jahr talwärts bewegen. Der seit 1938 beobachtete Blockgletscher im Äußeren Hochebenkar hat an seinem unteren Ende von 20 Metern im Jahr 2022 auf 27 Meter pro Jahr im Jahr 2023 beschleunigt.

Noch ist an allen Getschern die herbstliche Schneedecke dünn. Aufgrund der um diese Zeit schon geringen Sonneneinstrahlung kann zwar das Eis noch einmal herauskommen, allerdings sind die bis jetzt im Oktober vorkommenden Schmelzbeträge gering gewesen, und es steht zu hoffen, dass dies weiterhin so bleibt.

Einige Beispiele von Gletschern

Am Ende der außergewöhnlich langen Ablationsperiode war der Stubacher Sonnblickkees heuer komplett schneefrei, die in den letzten Jahren aufgetauchten Felsinseln werden immer größer. Die zukünftige Aufteilung in drei Zungen ist deutlich erkennbar und wurde bei den Längenmessungen für den Österreichischen Alpenverein bereits berücksichtigt. Wie schon in den Jahren zuvor, ist auch heuer wieder mit einer deutlich negativen Bilanz zu rechnen und wird dies den seit 1980 anhaltenden Massenverlust von in Summe 40 Millionen Kubikmeter weiter vergrößern.

Das Stubacher Sonnblickkees zerfällt – immer mehr Felsinseln werden sichtbar
G. Lehner, Bearbeitung H. Wiesenegger
Das Stubacher Sonnblickkees zerfällt – immer mehr Felsinseln werden sichtbar

Für das Venedigerkees berichtetBernd Seiser (IGF/ÖAW) von etwa 40 Zentimeter Schneerücklage und starker Schmelze an der Gletscherzunge, die aber etwa unter dem Jahr 2022 liegt.

Auch wenn nicht ganz so negativ wie vergangenes Jahr, wird beim Hallstätter Gletscher auch dieses Jahr ein ordentliches Minus dastehen, wie Kay Helfricht und Klaus Reingruber von Bluesky berichten. Bis zuletzt kam es mit nur wenigen Tagen Unterbrechung zur Eisablation. Der sommerliche Schneefall ist am Dachstein sehr gering ausgefallen. Auffällig sind die großen Flächenverluste durch Ausapern von Felsinseln, die zeigen, wie dünnmächtig das Eis an den Zungen ist. Ein weiteres großes Stück der mittleren Zunge ist vom Gletscher abgetrennt worden. Eine Adaption des Messnetzes am Hallstätter Gletscher sollte ebenfalls angedacht werden, da große Flächen, die vor nicht zu langer Zeit noch Akkumulationsgebiet waren, jetzt einen Meter Eis und mehr pro Jahr verlieren, hier aber noch keine Ablationspegel installiert sind.

Blick aus dem durchlöcherten Ödenwinkelkees auf das Eiskögele
B. Zagel
Blick aus dem durchlöcherten Ödenwinkelkees auf das Eiskögele

Am Seekarlesferner liegtdie Massenbilanz im Mittel der letzten zehn Jahre, Markus Strudl berichtet aber von zunehmendem Zerfall des Gletschers.

Am Hintereis- und Kesselwandferner sind laut Rainer Prinz von der Universität Innsbruck auch heuer keine Akkumulationsflächen zu verzeichnen. Die Massenbilanzen beider Gletscher sind stark negativ, wenn auch nicht so extrem wie im letzten Jahr. Am Hintereisferner erschweren Steinschlag und Spalten die Messungen zunehmend.

Der schuttbedeckte Ödenwinkelkees, der aktuell in einer Höhenlage von ca. 2.230 Meter endet, hat sich in den letzten zehn Jahren um 200 Metern, davon fast 100 Meter in den letzten zwei Jahren, zurückgezogen und zerfällt sehr rasch an seiner Zunge.

Eisturm als Ergebnis des Eiszerfalls am Ödenwinkelkees in den Hohen Tauern
B. Zagel
Eisturm als Ergebnis des Eiszerfalls am Ödenwinkelkees in den Hohen Tauern

Jamtalferner

Am Jamtalferner ist die Zunge ausgehöhlt und insbesondere im rechten Teil von trockener Kalbung betroffen. Der Gletscher ist in mehrere Teile zerfallen. Der Verlust liegt mit -2.26 Meter Wassersäule (das entspricht 2.260 Litern Wasser pro Quadratmeter Gletscherfläche) über dem Doppelten des langjährigen Mittels (1989-2022) von etwas über einem Meter Wassersäule. Im Vorjahr verlor der Jamtalferner -3,6 Meter Wassersäule. Während im Vorjahr die Schmelze in Summe stärker war, verstärkte sich im heurigen Jahr der in den Zahlen nicht sichtbare Zerfall des Gletschers.

Schweizer Gletscher verloren zehn Prozent der Flächen

Wie Andreas Bauder von der ETH Zürich berichtet, wurde auf 19 Gletschern gemessen, wobei auf 14 eine gletscherweite Bilanz ausgewertet werden kann. Die meisten Gletscher sind komplett ausgeapert, einzig am Rhonegletscher, Findelengletscher und Jungfraujoch hat Winterakkumulation den Sommer überlebt. Bei rund der Hälfte der Gletscher liegt die Negativbilanz an zweiter Stelle, also noch schlechter als im Extremsommer 2003!

In den vergangenen zwei Jahren haben die Schweizer Gletscher zehn Prozent ihrer Fläche verloren, nach einem Verlust von sechs Prozent im Vorjahr kamen heuer noch einmal vier Prozent hinzu.