Herbtliche Landschaft: Bäume mit roten und braunen Blättern im Gegenlicht
Lilya – stock.adobe.com
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Klimawandel

Das Herbst-Paradox

Der hohe CO2-Gehalt der Atmosphäre sollte eigentlich das Blätterwachstum anregen. Doch Wissenschaftler stellen nun das Gegenteil fest: Bäume werfen ihr Laub im Herbst früher ab. Für das Klima ist das keine gute Nachricht.

2019 durchbrach die CO2-Konzentration in der Atmosphäre erstmals die Marke von 410 ppm. CO2 ist einer der wichtigsten Treiber des Klimawandels, für Pflanzen indes stellt es einen lebenswichtigen Rohstoff dar. Wenn mehr Kohlenstoff für die Photosynthese zur Verfügung steht, sollten die Pflanzen auch stärker wachsen – oder?

Blätter fallen früher ab

Ganz so einfach ist das leider nicht, sagt Constantin Zohner von der ETH Zürich. „Ob Pflanzen wachsen, hängt auch davon ab, wieviel CO2 sie im Laufe des Jahres gebunden haben. Man muss sich das so vorstellen: Wenn wir bereits eine Pizza intus haben, dann essen wir auch weniger als wenn wir hungrig sind. Bei Bäumen ist das ähnlich.“

Bisher gingen Wissenschaftler davon aus, dass der Klimawandel die Vegetationsperiode verlängert. Für das Frühjahr trifft das auch zu, die Blätter treiben nun im Vergleich zu vor 100 Jahren zwei Wochen früher aus. Im Herbst hingegen ist das nicht der Fall, wie Zohner und seine Kollegen herausgefunden haben.

Beobachtungsdaten aus den Jahren 1948 bis 2015 zeigen: Zumindest in den Wäldern Mitteleuropas werfen Bäume ihre Blätter nun rund fünf Tage früher ab. Grund dafür dürften laut Experimenten die Nährstoffaufnahme sowie die CO2-Speicherkapazität sein, Stamm und Wurzel können offenbar mit den munter produzierenden Blättern nicht mehr mithalten. „Die bei der Photosynthese entstehenden Kohlenhydrate müssen ja irgendwo hin“, sagt Zohner. „Wenn die Kapazitätsgrenzen erreicht sind, dann sagt sich die Pflanze: Gut, dann werfe ich die Blätter eben ab.“

CO2-Aufnahme limitiert

Diesen Effekt konnten die Wissenschaftler von der ETH Zürich auch in einem neuen Modell abbilden. Was das für das Weltklima bedeutet, ist im Detail noch nicht geklärt. Größenordnungen lassen sich aber jetzt schon abschätzen. Laut früheren Studien entspricht jeder Tag Blattwachstum im Herbst rund 98 Kilogramm Kohlenstoff, den Wälder pro Hektar aufnehmen. Der verfrühte Blattwurf in gemäßigten Zonen würde grob umgerechnet bedeuten, dass pro Jahr rund eine halbe Gigatonne Kohlenstoff mehr in der Atmosphäre verbleibt. Zum Vergleich: 2019 hat die Menschheit 36,7 Gigatonnen CO2 in die Atmosphäre abgegeben.

Fazit der Studie im Fachblatt „Science“: Das Pflanzenwachstum wird aufs ganze Jahr gerechnet durch das Überangebot von CO2 zwar angekurbelt, aber bei weitem nicht so stark wie bisher gedacht – die Kohlenstoff-Aufnahme der Wälder ist offenbar nicht beliebig steigerbar. Zohner will nun überprüfen, ob sein für Mitteleuropa entwickeltes Modell auch im globalen Maßstab gilt und wie sich Trockenheit auf die Bilanz auswirkt. Natürlich wäre die Vegetationsstudie auch ein wichtiger Korrekturfaktor für Klimamodelle. Der Weltklimarat IPCC hat bei dem Schweizer Ökologen bereits Interesse angemeldet.