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kieferpix – stock.adobe.com
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Psychologie

Der moralische Kompass der Atheisten

Laut Goethe ist es die Gretchenfrage, wie man es mit Religion und Moral hält. Gläubige meinen häufig, dass das eine ohne das andere nicht geht. Neue Studien widersprechen: Auch Atheisten und Atheistinnen haben ihnen zufolge einen klaren moralischen Kompass – der richtet sich aber weniger auf Gruppen und mehr auf Individuen.

Atheismus hat es nicht gerade leicht. In vielen, zumindest westlichen Ländern mehrheitsfähig, verfügt er in der Öffentlichkeit über keine nennenswerte Lobby – im Gegensatz zu den Religionen. Dazu kommt sein schlechter Ruf. In den USA würden rund 95 Prozent mittlerweile einen qualifizierten Afroamerikaner, Juden oder Katholiken zum Präsidenten wählen, aber nur 60 Prozent einen atheistischen Kandidaten. Glaube an Gott sei notwendig für Moral und damit auch für Politik, so das dahinterstehende Vorurteil.

44 Prozent der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner teilen es, betont der Psychologe Tomas Stahl von der University of Chicago. In religiöseren Ländern wie Brasilien oder Tunesien sind es laut einer Studie von 2019 mit 84 Prozent noch viel mehr, in laizistischen wie Frankreich (15 Prozent) und Schweden (neun) viel weniger. Obwohl es keine Beweise gibt, dass sich Gläubige und Nichtgläubige de facto in ihren Handlungen unterscheiden, sind anti-atheistische Vorurteile sogar unter Atheisten und Atheistinnen verbreitet, wie eine weitere Studie zeigte.

Fünf Fundamente

Fragt sich nur: warum? Tomas Stahl ist dem nachgegangen: In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Plos One“ liefert er in einem Artikel keine philosophischen oder theologischen Argumente, sondern versucht Moralpsychologie mit empirischen Daten zu unterfüttern. Haben, so fragt er sich, Gläubige und Nichtgläubige unterschiedliche Konzepte von Moral? Ausgangspunkt seines Ansatzes ist die in angelsächsischen Ländern beliebte Moral Foundations Theory. Moral beruht ihr zufolge auf fünf Fundamenten, die unsere „gut oder schlecht“-Entscheidungen bestimmen: Fürsorge/Leid, Fairness/Betrug, Loyalität/Verrat, Autorität/Subversion und Reinheit/Verschmutzung. Die ersten beiden Gegensatzpaare sollen für den Schutz Einzelner sorgen, die anderen drei für den der Gruppe.

Ob und wie Gläubige und Nichtgläubige diese moralischen Fundamente unterschiedlich einschätzen, hat Stahl nun in mehreren empirischen Experimenten untersucht. Und zwar in zwei gegensätzlichen Ländern: zum einen in Schweden, einem betont weltlichen Land, und zum anderen in den USA, einem Land, in dem Religion die Norm ist. In beiden Ländern, so ein zentrales Ergebnis, unterstützen Gläubige stärker jene moralischen Fundamente, die die Gruppenzugehörigkeit stärken. Das passt zu der Idee, dass eine der Kernfunktionen von Religionen darin liegt, ihre Mitglieder in Gemeinschaften zu binden.

Trostspender in einer gefährlichen Welt

Wenig Unterschiede zeigten sich hingegen bei den Moralfragen zum Schutz Einzelner, also bei Fürsorge- und Fairnessfragen, und auch bei der allgemeinen Einschätzung von Moral. Der moralische Kompass sei bei Atheisten nur anders kalibriert, schließt Thomas Stahl. Gläubige würden sich mehr in Gemeinschaften engagieren und deshalb Gruppenwerte höher einschätzen. Nichtgläubige hingegen seien in ihrer Moral eher konsequentialistisch – sie beurteilen also den moralischen Wert einer Handlung eher nach ihren Folgen. Während sie das „Fall für Fall“ abhandeln, basiert die Moral der Gläubigen auf regelgeleiteten Normen.

Woher diese Unterschiede kommen, hat der Psychologe Tomas Stahl versucht anhand einer Reihe von Hypothesen zu untersuchen. Eine davon: Glaube spendet Trost – und den hat man besonders unter schwierigen Umständen nötig. Das hat sich in der Studie bewahrheitet: Wer eher der Meinung ist, in einer „gefährlichen Welt zu leben“ und „existenziell gefährdet zu sein“, neigt demnach eher zum Glauben – und eher zu moralischen Überzeugungen, die eine Gruppenzugehörigkeit forcieren. In den religiösen USA ist diese Einstellung weiter verbreitet als im weltlichen Schweden.

Entscheidend: Vorbilder und Denkstil

Eine Vorliebe für Gruppenmoral hängt auch mit Vorbildern in der unmittelbaren Umgebung zusammen: Hat man in der Kindheit Kontakt mit solchen religiösen Menschen, steigt die Wahrscheinlichkeit, später selbst religiös zu werden. Weitergegeben wird die „Glaubensstaffel“ über die konkrete Praxis in den Kirchen und Gemeinschaften – etwa Gottesdienste oder soziale Unternehmen. Umgekehrt verhält es sich mit einem bestimmten analytischen Denkstil: Wer zu diesem neigt, gehört laut der Studie eher zur Gruppe der Atheistinnen und Atheisten – wobei sich diese nicht als Gruppe empfinden.

Genau dadurch könnte ihr schlechter „moralischer Ruf“ entstanden sein, meint Tomas Stahl. Ein individualistischerer Zugang, gepaart mit weniger Respekt vor Autoritäten und geringerer Gruppensolidarität – das seien die Zutaten für die vermeintliche „atheistische Amoral“.

Übrigens: Agnostikerinnen und Agnostiker waren nicht Bestandteil der aktuellen Studie. Alle, die bei der Gretchenfrage nach Gott auf den Formularen „weiß nicht“ angekreuzelt haben, wurden sofort ausgeschlossen.