Stofftier: Teddybär mit Schleife um den Hals
APA/dpa-Zentralbild/Ole Spata
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Gastbeitrag

Prekäre Verwandtschaft: Das Tier und wir

Die fortschreitende Naturzerstörung, argumentiert der Kulturanthropologe Stephan Zandt, habe mit der Unfähigkeit zu tun, Tiere und Pflanzen als Verwandte anzuerkennen. Das gelte zumindest für Erwachsene bzw. die westliche Moderne – bei Kindern sei das anders.

Der im Mai 2019 publizierte Globale Bericht des Weltbiodiversitätsrats der UN zeichnet ein desaströses Bild der Auswirkungen unserer modernen Lebensweise auf die uns umgebende Natur: in den nächsten Jahrzehnten sind eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Vor diesem Hintergrund hat der Biologe Edward O. Wilson bereits vor etlichen Jahren unser gegenwärtiges Zeitalter als Eremozän benannt: Das Zeitalter der drohenden Einsamkeit des Menschen.

Ein Feldhamster erkundet aus einem Erdloch auf einer Ackerfläche heraus seine nähere Umgebung.
APA/dpa/Uwe Anspach
Auch der Feldhamster steht heute auf der Roten Liste der bedrohten Tier- und Pflanzenarten

Dabei dämmert uns immer mehr, wie sehr wir von der Diversität der anderen Lebensformen, mit denen wir den Planeten teilen, abhängig sind. Die moderne Teilung der Welt in die streng getrennten Sphären von Natur und Kultur ist ins Wanken geraten. Die gegenwärtige Krise zwingt uns, unsere Beziehungen zur Welt, zu den Lebewesen und den ökologischen Bedingungen unserer Existenz zu überdenken und neue Beziehungen zu nichtmenschlichen Lebensformen zu knüpfen. Für wen und welche Beziehungen übernehmen wir Verantwortung? Mit wem teilen wir unser Leben? Welchen Lebewesen schulden wir unsere Existenz?

Über den Autor

Stephan Zandt war von 2013 bis 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.

Derzeit ist er Research Fellow am Internationalen Zentrum für Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien. Am 8. März berichtet er in einer IFK-Zoom-Lecture über seine Forschungen.

Sich verwandt machen

Ausgehend von diesen Fragen eines erdgebundenen Überlebens, denkt die feministische Theoretikerin Donna Haraway in ihrem letzten Buch „Staying with the Trouble“ über unsere Verwandtschaft mit anderen Spezies nach. Warum fällt es uns in der westlichen Moderne so schwer, uns mit anders-als-menschlichen Lebewesen als verwandt zu denken? Eine Schwierigkeit, die andere Kulturen und Gesellschaften nachweislich nicht haben. So schließen etwa Angehörige von First Nations, wie die Mi’kwaw-Theoretikerin Margaret Robinson, explizit die Beziehungen zum Land ebenso wie zu Tieren und Pflanzen in die Idee von Verwandtschaft ein. Diesen werden genauso wie die Menschen als Personen begriffen.

Vielfältige Studien von Kultur- und Sozialanthropolog*innen haben in den letzten Jahrzehnten gezeigt, dass unsere moderne Vorstellung von Verwandtschaft als Bluts- und Heiratsverwandtschaft keineswegs universelle Gültigkeit beanspruchen kann. Die diffuse Solidarität, die in und mit der Verwandtschaft begründet wird, kann aus der Teilung einer gemeinsamen Substanz resultieren, sie muss es aber nicht. Sie kann ebenso in der Sorge umeinander, dem wechselseitigen Austausch von Gaben, Schuldigkeiten und Dienstleistungen, dem Teilen des Mahls, dem gemeinsame Wohnen an einem Ort und vielfältigen anderen Formen des geteilten Lebens gründen.

Daraus lässt sich folgern: Verwandtschaft ist ein je spezifisches, gelebtes System von Regeln, Vorstellungen, wechselseitigen Verpflichtungen, Werten und Beziehungen. In dieses System werden wir zwar hineingeboren; wir müssen es aber von klein auf erst erlernen. Kinder sind noch nicht in dem Maße kulturell geprägt wie Erwachsene und ihre Beziehungen zur Welt gestalten sich „polymorph sozial“, wie der Kulturanthropologe Claude Lévi-Strauss betont hat. Wir alle kennen die kindlichen Beziehungen und Welten, in denen Tiere ganz selbstverständlich sprechen, man sich in Tiere verwandelt und die Angst vor imaginären Wesen real erscheint.

Kinder und Tiere

Man kann die Rolle, die Tiere im Leben und in der Erziehung von Kindern in der Moderne spielen, gar nicht überschätzen. So hat sich die Psychoanalyse bereits früh mit den Tierphobien von Kindern beschäftigt und hierin die Übertragungen familiärer Beziehungen auf Tiere und deren umgekehrte Rolle für die Festigung der innerfamiliären Beziehungen betont. Seit seinem Aufkommen um 1900, stellen der Teddybär und seine Plüschverwandten als Spielgefährten und Übergangsobjekte oftmals einen tröstlichen Ersatz für zwischenmenschliche Bezugspersonen dar.

Kinderbuch, 1931: Dachs, Frosch und Maulwurf in Menschenkleidern
gemeinfrei
Illustration von E. H. Shepard für Kenneth Grahames „The Wind in the Willows“, 1931

Denken wir auch an all die Kinderbuchklassiker, in denen Tiere die Hauptrolle spielen und die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ganz neuen Buchmarkt für Kinder begründeten. Denken wir an die Zoobesuche von Familien oder auch an all die Haustiere, die seit dem 19. Jahrhundert in die neuen Räume der Kindheit Einzug gehalten haben und die den Kindern nicht nur Naturwissen, sondern auch soziales Verantwortungsgefühl vermitteln sollten.

All diese Phänomene machen deutlich, dass auch unsere modernen Konzepte zwischenmenschlicher Verwandtschaft – und insbesondere das Hineinwachsen in diese – in vielfältiger Weise von Beziehungen zu Tieren und ihren Surrogaten vermittelt und bestimmt werden. Die moderne Familie ist ohne „ihre Tiere“ schlicht kaum zu denken. In meiner Forschung möchte ich diesem Umstand Rechnung tragen und fragen, wie sich ausgehend von exemplarischen Kinder- und Tiergeschichten Verwandtschaft neu denken lässt: Inwiefern wurden bei der Herausbildung unserer heute prekär gewordenen Vorstellungen von Verwandtschaft andere kulturelle Möglichkeiten sich verwandt zu machen verworfen? Und wie lässt sich möglicherweise auf neue Weise daran anknüpfen?