Winzige Goldkugel auf einer Ein-Cent-Münze
Arkitek Scientific
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Experiment

Mikrogravitation: Weltrekord von Wiener Physikern

Wissenschaftlern der Uni Wien ist das Kunststück gelungen, die Gravitation zwischen zwei bloß millimetergroßen Goldkugeln zu vermessen. Das Experiment erschließt physikalisches Neuland – und könnte Antworten liefern auf die Frage: Woraus besteht die rätselhafte Dunkle Materie?

90 Billiardstel Newton. So klein ist die Kraft, die Markus Aspelmeyer und seine Kollegen in ihrem jüngsten Rekordexperiment bestimmt haben. Das ist in etwa so viel (oder so wenig), wie die Kraft, die im Schwerfeld der Erde auf eine einzelne Blutzelle wirkt.

Bei der Versuchsanordnung, von der die Wiener Physiker diese Woche im Fachblatt „Nature“ berichten, handelt es sich um die Neuauflage eines historischen Klassikers, heute bekannt als Cavendish-Experiment. In den Jahren 1797 und 1798 bestimmte der Engländer Henry Cavendish die Dichte der Erde mit Hilfe eines sogenannten Torsionspendels. Nicht direkt, sondern durch Rückschluss über die winzige Kraft, die von einer 160 Kilogramm schweren Bleikugel auf eben jenes Pendel ausgeübt wurde (Originaltext hier).

Die Masse eines Marienkäfers

Welche Dichte unser Planet besitzt, ist heutzutage längst geklärt. Offen bleibt indes die Frage: Wie weit kann man auf diese Weise in den Mikrobereich der Schwerkraft eindringen? Aspelmeyer und sein Team näherten sich dem Problem – wie Cavendish – mit Hilfe eines Torsionpendels an, diesmal kamen allerdings bedeutend kleinere Massen zum Einsatz, nämlich zwei bloß 90 Milligramm schwere Goldkugeln. Zum Vergleich: Das entspricht in etwa der Masse eines Marienkäfers.

Labor: Torsionspendel mit winzigen Goldkugeln
Tobias Westphal, Universität Wien
Versuchsanordnung: Kügelchen auf einem Torsionspendel

Dass die Wiener Physiker die verschwindend geringe Gravitationskraft zwischen den Kugeln per Lasermessung bestimmen konnten, liegt zum einen an der Konstruktion des Pendels – zum anderen an der aufwändigen Dämpfung und Abschirmung des Versuchsapparates. Störsignale gab es zuhauf, in den Messungen zeigte sich etwa der Schwerkrafteinfluss von Autos und Straßenbahnen in der nahe gelegenen Währingerstraße im neunten Wiener Gemeindebezirk.

Straßenbahn als Störfaktor

„Wir haben vermutlich die teuerste Methode gefunden, um den Fahrplan der Wiener Linien zu überprüfen“, witzelt Markus Aspelmeyer im Gespräch mit dem ORF. „Die Nachtbusse weichen so gut wie nie vom Plan ab. Und wenn doch, dann höchstens zwei Minuten. Ein großes Lob an die Wiener Linien!“ Auch der Zieleinlauf des Vienna City Marathons erzeugte in den Daten einen Peak, ebenso wie die Flaneure, die Freitag- und Samstagabend auf den Straßen rund um das Institut unterwegs waren.

Die besten Bedingungen fanden die Wiener Forscher schließlich nachts während der Weihnachtsfeiertage vor: In dieser Woche Ende letzten Jahres zoomten sich Aspelmeyer und sein Team gleichsam in die feinsten Abstufungen der Gravitation, bis in den Bereich von Pikonewton. Obwohl die Messung derzeit Weltrekord bedeutet, ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht. Tausendmal kleinere Massen zu verwenden, sei mit dem Setting „jetzt schon möglich“, sagt Studien-Co-Autor Jeremias Pfaff. Schwierigkeiten könnten allenfalls bei der Abschirmung auftreten. Daher überlege man nun, die Experimente in ein anderes Labor zu verlegen, abseits des urbanen Trubels.

Der Sinn der Rekordjagd

Selbstzweck ist die Jagd nach ultraschwachen Gravitationsfeldern freilich keiner. Die Messungen in bisher unerreichbaren Regionen kleiner und kleinster Wirkungen eröffnen einige Pfade, um Grundsatzfragen zu klären und Antworten zu finden auf die großen Rätsel der theoretischen Physik. In die erste Kategorie fällt etwa die Vermessung der Gravitationskonstante, die im Gegensatz zu anderen Naturgrößen (wie etwa die Lichtgeschwindigkeit oder die Boltzmannkonstante) noch immer nicht ganz exakt bestimmt wurde. „Das liegt daran, dass die Gravitationskraft im Vergleich zu den anderen Naturkräften sehr sehr schwach ist. Präzisionsmessungen sind unglaublich schwierig – auch deshalb, weil die Erde die ganze Zeit wackelt“, sagt Pfaff.

Zum anderen wären mit dem Torsionspendel auch Überprüfungen von Newtons Gravitationstheorie möglich. Für alltägliche Anwendungen sind Newtons Gesetze völlig ausreichend, aber es gibt zwei Bereiche, in denen sie zumindest unvollständig sein könnten: Sofern die Gravitation tatsächlich Quanteneigenschaften aufweist, so wie in einigen Theorien vermutet, sollte sich das in verfeinerten Versuchen zeigen. „Hält sich die Gravitation an die Regeln der Quantenphysik? Wir wissen es derzeit nicht“, sagt Aspelmeyer. „Wir wollen Experimente durchführen, die an dieser Frage kratzen.“

Woraus besteht die Dunkle Materie?

Und nicht zuletzt könnten die Versuche auch Aufschluss geben über die Natur der Dunklen Materie, die da draußen im All die Galaxienbewegungen steuert. Dass sie existiert, gilt als gesichert. Woraus sie besteht, ist indes immer noch Gegenstand von Spekulationen. Das würde sich schlagartig ändern, wenn es einen Beweis für Abweichungen von Newtons Theorie auf kleinen Skalen gäbe: „Sollte irgendetwas dran sein an diesen Ideen, dann muss sich bei ganz kleinen Abständen etwas ändern", sagt Aspelmeyer. „Wenn wir keine Abweichungen von Newton finden, dann haben wir ein Problem – aber dann können wir zumindest die allermeisten Theorien aussieben.“