Vier Jugendliche sitzen gelangweilt auf einem Sofa und schweigen
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Psychologie

Der Sinn des Schweigens

Schweigen ist nicht gleich Schweigen: Es kann Ohnmacht ausdrücken, Strafe, Abgrenzung – aber auch Selbstermächtigung. Den vielen Facetten von Sprechpausen und Stille geht nun ein neues Buch zweier Psychotherapeuten nach. Fazit: Schweigen kann auch „Sinn machen“.

Fritz Betz, Psychotherapeut in Wr. Neustadt, Soziologe und einer der Buchautoren, klärt im E-Mail-Interview auf, warum das sowohl in der Therapie als auch im Alltag gilt.

science.ORF.at: „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ – für Psychotherapie ist das aber keine optimale Strategie, oder?

Fritz Betz: Bei der Psychotherapie denken die meisten Menschen an Gesprächstherapie, was ja auch seine Berechtigung hat. Zumeist wird dann aber die Bedeutung des Nonverbalen übersehen. Schweigen ist vieldeutig und vielgestaltig. Im Schweigen kann sich unter anderem Ohnmacht, Überlegenheit, Scham oder Widerstand ausdrücken. Es kann Zuflucht sein, es kann Türen der Wahrnehmung öffnen und Veränderungen einleiten. Dem Sprichwort „Schweigen ist Gold“ widmete übrigens schon 1916 der Analytiker Sándor Ferenczi eine kurze launige Abhandlung, in der ein möglicher Zusammenhang zwischen Wortkargheit und Verstopfung erwogen wird.

Entspricht da, wer an Worten und Verdauung spart, einem analen Charaktertyp?

Buch

Fritz Betz, René Reichel: Schweigen macht Sinn, Facultas Verlag 2021

Betz: Landläufig gesprochen, ja, aber ich denke, der „anale Charakter“ ist ein populäres Konstrukt im Gefolge der Freudschen Entwicklungspsychologie, das im heutigen Stand der empirischen Forschung wenig Widerhall findet. An Ferenczis Überlegungen ist aber jedenfalls der Hinweis wertvoll, dass Schweigen ein leiblicher Akt sein kann, mit dem man etwas zurückhält, um selbst nicht geschwächt zu werden. Anders gesagt: Es geht dann um Selbstbeherrschung und Selbstermächtigung. In sozialen und politischen Zusammenhängen kennen wir das auch als bewusste Strategie der Machtausübung. Man versucht, sich durch die Vermeidung von Begegnung und Auseinandersetzung unantastbar zu machen. Mein Ko-Autor René Reichel erinnert etwa an das strafende Schweigen von Eltern ihren Kindern gegenüber.

In die psychotherapeutische Praxis gefragt: Ist solch ein Schweigen für die Kinder schlimmer als angebrüllt werden? Und was macht das mit der Psychohygiene der Eltern?

Betz: Weder das Brüllen noch das strafende Schweigen sind besonders bekömmliche Formen des zwischenmenschlichen Umgangs. Was in denen vorgeht, die sich bewusst aus der sprachlichen Kommunikation zurückziehen, können und sollen wir nie genau wissen. Das ist ja genau der Zweck eines strategischen Schweigens: eine Trennung zu signalisieren, Anschlussfähigkeit zu verweigern und eine Asymmetrie des Wissens, das wir voneinander haben können, einzuziehen. In diesem Zusammenhang sind Schweigen und Verschwiegenheit auch mit dem verbunden, was wir ein Geheimnis nennen.

Sich dieser Asymmetrie oder eines Geheimnisses gewahr werden, als Kind oder als Partner, kann sehr schmerzhaft sein und wütend machen. Wie kann man die Andere oder den Anderen zum Reden bringen, ohne Grenzen zu verletzen?

Betz: Ich fürchte, da gibt es kein Patentrezept. Als Therapeut kann ich zunächst einmal versuchen, gemeinsam mit den Beteiligten die Beziehungsdynamik zu verstehen, die hinter einem einseitigen Rückzug steckt. Dann geht es darum, gemeinsam Auswege aus dem dysfunktionalen Kommunikationsmuster zu suchen. Manchmal ist Sprachlosigkeit auch ein Zeichen von Hilflosigkeit. Manchmal muss man einen Rückzug aus der Sprache auch einfach akzeptieren und respektieren.

OK, aber in einer Therapie will man Dinge ja ans Licht bringen, also drüber reden. Wie gehen Sie mit dem Schweigen von Patienten oder Patientinnen um? Kommt so etwas überhaupt vor?

Betz: Selbstverständlich. Im Therapieraum darf es auch still werden, wenn Therapeut*innen das ermöglichen und tragen können. Sprechpausen entschleunigen, machen Zeiträume für die sinnliche Wahrnehmung und für die kognitive Verarbeitung auf. Wesentliches kann sich über die Mimik, die Körperhaltung und Gesten ausdrücken. Bisweilen sind das auch Re-Inszenierungen von Erfahrungen, die sich ansonsten der Erinnerung und Versprachlichung entziehen. Therapeut*innen und psychosoziale Berater*innen sind in solchen zwischenleiblichen Dialogen gefordert, offen für das zu sein, was bei ihrem Gegenüber und bei ihnen selbst geschieht.

Ein Patient sitzt vor einer Therapeutin mit verschränkten Händen und schweigt
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Man kann also wirklich „nicht nicht kommunizieren“, wie Paul Watzlawick meinte … aber wie kommen Sie aus so einer Schweigephase in der Praxis wieder heraus?

Betz: Das ist sehr von der Situation und von den Besonderheiten des jeweiligen therapeutischen Prozesses abhängig. Manchmal sind es die Patient*innen, die das Schweigen beenden, manchmal bin ich der, der als erster spricht. Wie wir wieder aus der Sprachlosigkeit auftauchen, wie wir mit spracharmen Patient*innen und Klient*innen umgehen oder wie wir Schweigephasen im weiteren therapeutischen Prozess fruchtbar machen können – dazu hat René für unser Buch ein eigenes Kapitel mit praktischen Tipps verfasst.

Können Sie da vielleicht ein, zwei Beispiele geben – vielleicht sind diese Tipps ja auch für den Alltag hilfreich?

Betz: Also, im Buch geht es da in erster Linie um Strategien für Psychotherapie und Beratung. Das sind Strategien, die zum Teil darüber hinausgehen, dass sich im Setting „talking heads“ gegenübersitzen, die gemeinsam Bewusstseinsarbeit betreiben. Wir können zum Beispiel den kreativen Ausdruck abseits des Redens im Umgang mit Objekten, im Malen, Schreiben, Tönen, sich Bewegen etc. fördern. Wir, die beiden Autoren, kommen ja aus der Integrativen Therapie mit ihrer Beziehungs- und Leiborientierung. Das Wahrnehmen von Resonanzen auf der Körperebene ist da etwas Wesentliches, und zum Repertoire unserer Techniken gehört auch ein nonverbales Arbeiten mit Körperhaltungen, Gesten und Bewegung.

Um abschließend noch ein Sprichwort zu bemühen bzw. zu adaptieren: Si tacuisses, therapeuticus mansisses, also in etwa „Hätte ich geschwiegen, wäre ich ein Therapeut geblieben …“ Gibt es auch Momente in einer Therapie, wo Sie es im Nachhinein bedauert haben NICHT geschwiegen zu haben?

Betz: Ich erinnere mich, dass ich in meinen Anfangszeiten als Therapeut ab und zu die Sorge hatte, möglicherweise etwas „Falsches“ gesagt zu haben. Das ist in den Hintergrund getreten, je mehr mir in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass wir ja mit unseren Patient*innen vertrauensvoll in einer gemeinsamen Suchbewegung nach Sinn und Bedeutung unterwegs sind. Da verlieren dann Kategorien wie „richtig“ und „falsch“ an Schärfe. Heutzutage kann es mir manchmal passieren, dass ich, wenn ich müde und unaufmerksam werde, dazu neige, zu viel zu reden. Dann ist es wichtig, wieder in eine therapeutische Haltung zurückzufinden, die den Raum für das sinnliche Wahrnehmen, vor allem auch für die Selbstentfaltung meiner Patient*innen offen hält.