Stühle vor dem Fenster: Ein geschlossener Schanigarten in Wien
APA/ROLAND SCHLAGER
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Pandemie

„Kur war nicht schlimmer als Krankheit“

Seit dem Ausbruch der Pandemie gibt es immer wieder Debatten darüber, ob die Auswirkungen der Lockdowns nicht vielleicht sogar schlimmer sind als die Gefahr durch das Virus selbst. Laut einem internationalen Forscherteam gibt es dafür aber derzeit keine Beweise.

Ausgangssperren, Home Schooling und geschlossene Lokale – die Coronavirus-Pandemie hat den Alltag in Ländern auf der ganzen Welt auf den Kopf gestellt. Die Maßnahmen der Regierungen werden dabei oft kritisiert. Negative Auswirkungen der Lockdowns – auf wirtschaftlicher, gesundheitlicher und sozialer Ebene – würden die Gefahren des Virus aber nicht überschatten, erklärt Samir Bhatt, Epidemiologe am Imperial College London. Zusammen mit einem internationalen Forscherteam analysierte er bereits vorhandene Daten über die Auswirkungen der Lockdowns auf Sterberaten, regionale und globale Gesundheitsprogramme und die psychische Gesundheit der Bevölkerung mehrerer Länder. Die Ergebnisse haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler soeben im Fachjournal „BMJ Global Health“ veröffentlicht.

“Lockdowns allein lassen Todesfälle nicht ansteigen“

In ihrer Arbeit verglichen sie unter anderem die Übersterblichkeit in mehreren Ländern – also all jene Sterbefälle, die über die sowieso erwartete Zahl der Todesfälle hinausgehen. Dabei griffen sie auf Daten aus dem “World Mortality Dataset“ zurück, in dem es aktuelle Informationen über Todesfälle aus 94 Ländern gibt. Wie sich zeigte, konnte in Ländern mit Lockdowns aber vergleichbar wenigen Coronavirus-Fällen (wie Australien und Neuseeland) keine erhöhte Sterberate festgestellt werden. Im Gegensatz dazu war die Übersterblichkeit in Ländern wie Brasilien, Schweden und Russland, wo es weniger Maßnahmen der Regierung, aber dafür viele Infektionen gab, besonders groß. „Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Maßnahmen der Regierung allein zu keinem Anstieg der Todesfälle führen“, so Bhatt gegenüber dem ORF.

Angst vor Ansteckung im Krankenhaus

In der Pandemie gerieten auch Gesundheitssysteme auf der ganzen Welt an ihre Grenzen. So ging etwa die Zahl der nicht mit dem Coronavirus in Verbindung stehenden Eingriffe und Behandlungen vielerorts zurück. Oft werde dies den Maßnahmen der Regierungen in die Schuhe geschoben, so Bhatt. Laut dem Epidemiologen sei es aber schwer nachzuweisen, worauf die Probleme im Gesundheitsbereich tatsächlich zurückzuführen sind. Neben überlasteten Intensivstationen durch Coronavirus-Patienten sei zum Beispiel ein nicht zu vernachlässigender Faktor, dass viele Personen aus Angst vor einer Ansteckung Krankenhäuser mieden und es auch dadurch zu einem Rückgang der Behandlungen kam.

„Daten aus England und Australien zeigen etwa, dass die nicht mit dem Coronavirus in Verbindung stehende Arbeit auf den Intensivstationen schon vor den ersten Ausgangssperren stark zurückgegangen ist. An der Situation hat sich auch nichts geändert, nachdem die Maßnahmen wieder aufgehoben wurden“, so Bhatt. Für ihn sei das ein klares Zeichen dafür, dass Lockdowns allein nicht für ein überbeanspruchtes Gesundheitssystem sorgen.

Blick in die Infektionsabteilung und Isolierstation im Kaiser-Franz-Josef-Spital.
APA/HELMUT FOHRINGER

Globale Hilfsprogramme für andere Krankheiten betroffen

Die Forscher und Forscherinnen analysierten in ihrer Arbeit außerdem, wie es um globale Gesundheitsprogramme derzeit bestellt ist. Wie der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria aufzeigt, kam es in der Pandemie in 80 Prozent der globalen HIV-Programme zu Unterbrechungen der Leistungen. Ähnlich stark betroffen waren Programme gegen Tuberkulose (75 Prozent). Impfprogramme bei Kindern wurden seit dem Ausbruch der Pandemie in 68 Ländern unterbrochen.

„Auch hier kann aber nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass diese Unterbrechungen nur aufgrund von zum Beispiel Ausgangssperren auftreten“, so Bhatt. Personalverschiebungen im Gesundheitsbereich aufgrund überlasteter Krankenhäuser und das damit einhergehende Fehlen der Mediziner in den Gesundheitsprogrammen seien weitere mögliche Gründe dafür.

Suizid und Depression

Die Forscher fanden in früheren Studien und Datenerhebungen auch Hinweise darauf, dass die Zahl der Suizide in den letzten Monaten durch die Maßnahmen der Regierungen generell nicht angestiegen ist. Gleichzeitig nahmen aber psychische Belastungen seit dem Ausbruch der Pandemie zu. Laut Bhatt sei es aber auch hierbei schwer nachzuweisen, ob der Anstieg psychischer Probleme auf die Maßnahmen der Regierungen oder auf die generellen Auswirkungen der Pandemie zurückzuführen sei.

„Die Schule zu verpassen und seine Freunde nicht zu sehen, hat natürlich negative Auswirkungen auf die Psyche von Kindern – ein Familienmitglied aufgrund einer Coronavirus-Infektion zu verlieren, aber sicherlich auch“, so Bhatt. Laut Forschungsdaten wird davon ausgegangen, dass in den USA bereits rund 43.000 Kinder zumindest ein Elternteil aufgrund einer Infektion mit dem Coronavirus verloren haben. „Obwohl es natürlich naheliegt, dass längere Perioden der Isolation problematisch für die Psyche sind, können diese durch Lockdowns, aber auch generell durch die Folgen der Pandemie selbst ausgelöst werden. Das Thema ist also zu komplex, um zu behaupten, der Anstieg psychischer Probleme sei nur auf die Maßnahmen der Regierungen zurückzuführen“, so Bhatt.

Betrachtung aus mehreren Blickwinkeln

Wie das Forscherteam aufzeigt, gibt es derzeit kaum Hinweise darauf, dass die negativen Auswirkungen der Regierungsmaßnahmen schlimmer seien als die Folgen der Coronavirus-Pandemie – zumindest in der nahen Zukunft. Daten zu langfristigen Folgen der Lockdowns gäbe es derzeit noch nicht. Laut Bhatt müssten die aktuell herrschenden Probleme aus mehreren Blickwinkeln betrachtet werden. Generell den Regierungen die Schuld zuzuschieben sei der falsche Weg.

„Uns war es in unserer Arbeit einfach wichtig zu zeigen, dass diejenigen, die behaupten, Regierungsmaßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus seien unnötig und würden zu mehr Problemen als die Pandemie selbst führen, falsch liegen. Die Gefährlichkeit, die von dem Virus ausgeht, wird mit solchen Aussagen leider verharmlost“, so Bhatt abschließend.