1941/42 „Vorbereitung eines Transportes. Gepäcksverladung“, aus dem Fotoalbum „Aus meiner Dienstzeit“ von Josef Weiszl. Auf dem rechten Foto im Vordergrund SS-Unterscharführer Josef Weiszl (1912–1984), Mitarbeiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, im Hintergrund jüdische Zwangsarbeiter. Die Aufnahmen aus der Sperlgasse 2a in diesem Album sind die einzigen bekannten Fotografien eines Wiener Sammellagers.
Wiener Stadt- und Landesarchiv
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Nationalsozialismus

Wien als Modell der Judenverfolgung

Vor 80 Jahren haben die Nazis begonnen, Juden und Jüdinnen aus dem ganzen Deutschen Reich zu deportieren. Der erste Transport ging am 15. Oktober 1941 aus Wien ab – die Stadt war Modell und Motor der Radikalisierung der NS-Judenverfolgung, wie die Historikerinnen Michaela Raggam-Blesch und Heidemarie Uhl in einem Gastbeitrag schreiben.

Zum 80. Jahrestag eröffnet das Haus der Geschichte Österreich die Outdoor-Ausstellung „Das Wiener Modell der Radikalisierung. Österreich und die Shoah“ auf dem Wiener Heldenplatz. Die Ausstellung zeigt die Rolle Wiens bei der Verschärfung der antisemitischen Politik des NS-Staates. Wien – die Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im Deutschen Reich – wurde nach dem „Anschluss“ 1938 zum Experimentierfeld für den Terror gegen die jüdische Bevölkerung. Hier wurde bereits im Frühjahr 1941 das Modell der systematischen Massendeportationen in die Ghettos, Vernichtungslager und Mordstätten entwickelt und erprobt, das ab Herbst 1941 reichsweit umgesetzt wurde.

die Historikerinnen Michaela Raggam-Blesch und Heidemarie Uhl
The Schubidu Quartet; ÖAW

Über die Autorinnen

Die Historikerinnen Michaela Raggam-Blesch und Heidemarie Uhl forschen am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien bzw. am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Schauplatz der ersten reichsweiten Deportation

Im Oktober 1941 begannen die reichsweiten Deportationen aus Deutschland in das besetzte Polen, Generalgouvernement genannt, und den Warthegau. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion war im Sommer/Herbst 1941 der Beschluss zur „Endlösung“ gefallen. Ziel der nationalsozialistischen Judenpolitik war nun nicht mehr die Vertreibung, sondern die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im gesamten nationalsozialistischen Herrschaftsbereich. Der erste Deportationstransport ging am 15. Oktober 1941 von Wien ab. Weitere vier Transporte mit jeweils 1.000 österreichischen Jüdinnen und Juden folgten am 19., 23., 28. Oktober und 2. November.

Ziel der ersten Deportationswelle war das Ghetto Litzmannstadt/Łódź, wo bereits rund 150.000 polnische Jüdinnen und Juden zusammengedrängt lebten. Innerhalb von 20 Tagen wurden 20 Transporte mit insgesamt fast 20.000 Jüdinnen und Juden aus Wien, Prag, Berlin, Hamburg, Köln, Düsseldorf, Frankfurt am Main und Luxemburg nach Łódź geführt. Der Großteil der im Ghetto Internierten wurde in den Vernichtungslagern Chełmno und Auschwitz ermordet. Von den rund 5.000 aus Wien nach Łódź deportierten Jüdinnen und Juden sind laut Datenbank der Schoah-Opfer des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) nur 34 Überlebende bekannt. Im November 1941 wurden rund 5.000 burgenländische Roma und Romnja nach Łódź überstellt, von denen niemand überlebte.

Antisemitisches Experimentierfeld

Ob geplant oder Zufall: Dass der reichsweit erste Transport in die Vernichtung aus Wien abging, verweist auf die Rolle Wiens in der Radikalisierung der antisemitischen Politik des NS-Staates. Wien wurde nach dem „Anschluss“ im März 1938 zum Experimentierfeld für den Terror gegen die jüdische Bevölkerung. Gewalt auf der Straße und behördliche Maßnahmen zur Verfolgung und Vertreibung gingen Hand in Hand.

Zum „Exportmodell“ wurde die von Adolf Eichmann im August 1938 aufgebaute „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, die hocheffizient die erzwungene Vertreibung mit der Beraubung der jüdischen Bevölkerung verband und für Eichmann zum Karrieresprungbrett wurde. Im Frühjahr 1941 sollte Wien als erste Großstadt „judenfrei“ gemacht werden. Nun wurde die „Zentralstelle“ zur Schaltstelle für die systematischen Massendeportationen, deren Durchführung hier in fünf Transporten im Frühjahr 1941 erprobt wurde – nach diesem Muster wurden ab Oktober 1941 die reichsweiten Deportationen durchgeführt.

Listen der Deportationstransporte aus Wien 1941–1945. Für die 45 Transporte vom Wiener Aspangbahnhof in den Jahren 1941/42 wird je ein Hängeregister mit Namenslisten angelegt. Die letzten drei Ordner umfassen weitere 33 kleine Transporte mit insgesamt knapp 2.100 Personen, die zwischen 1943 und Anfang März 1945 vom Wiener Nordbahnhof deportiert werden. Die Originalregister befinden sich im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Sie wurden 2007 in der Ausstellung „Ordnung muss sein. Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien“ im Jüdischen Museum Wien erstmals öffentlich gezeigt.
Lisa Rastl, Jüdisches Museum Wien
Listen der Deportationstransporte aus Wien 1941–1945. Für die 45 Transporte vom Wiener Aspangbahnhof in den Jahren 1941/42 wird je ein Hängeregister mit Namenslisten angelegt. Die letzten drei Ordner umfassen weitere 33 kleine Transporte mit insgesamt knapp 2.100 Personen, die zwischen 1943 und Anfang März 1945 vom Wiener Nordbahnhof deportiert wurden.

„Anschluss“-Pogrome 1938 als Motor der Radikalisierung

Die Rolle Wiens als Motor der Radikalisierung des Antisemitismus begann mit der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich in den Abendstunden des 11. März 1938. Unmittelbar nach der im Radio übertragenen Rücktrittsrede von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg begannen die gewalttätigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Noch bevor die antijüdischen Maßnahmen des NS-Regimes in Wien griffen, waren Jüdinnen und Juden in der ganzen Stadt pogromartigen Übergriffen, Demütigungen und Misshandlungen ausgesetzt.

Bei den berüchtigten „Reibpartien“ mussten sie in aller Öffentlichkeit mit ätzender Lauge die Parolen der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur für ein unabhängiges Österreich von den Straßen waschen. Unzählige Schaulustige aller Altersgruppen beteiligten sich daran mit offener Schadenfreude. Die Plünderung von jüdischen Geschäften, antisemitische Beschmierungen und Boykottaufrufe begannen schon vor dem offiziellen „Judenboykott“ des Nazi-Regimes. „Wilde Arisierungen“, also die Enteignung jüdischer Geschäfte und Betriebe ohne Genehmigung der NS-Behörden, waren an der Tagesordnung.

Den ungeregelten Gewalttaten und Beraubungen folgte der Terror der Bürokratie. Unmittelbar nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich traten die judenfeindlichen Maßnahmen, die in NS-Deutschland seit 1933 sukzessive erfolgt waren, hier mit einem Schlag in Kraft. Die NS-Behörden im Land Österreich (so die offizielle Bezeichnung bis zum Ostmarkgesetz 1939) waren tatkräftig bemüht, die reichsdeutschen Schikanen noch zu übertreffen. Jüdinnen und Juden wurden entlassen, erhielten Berufsverbot, ihre Mietverträge wurden gekündigt. Ab Mai 1938 mussten jüdische Kinder die öffentlichen Schulen verlassen. Reichsweit erfolgte diese Verordnung erst nach dem Novemberpogrom 1938. Betroffen waren mehr als 200.000 ÖsterreicherInnen, die Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinden oder durch die Nürnberger „Rassengesetze“ als jüdisch definiert waren. Der Großteil von ihnen lebte in Wien.

15. März 1938: Jüdische Wiener werden vor Schaulustigen in der Hagenmüllergasse, Wien 3., gezwungen, Österreich-Parolen von der Straße zu reiben
Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien
15. März 1938: Jüdische Wiener werden vor Schaulustigen in der Hagenmüllergasse, Wien 3., gezwungen, Österreich-Parolen von der Straße zu reiben

Die Ausschreitungen in den „Anschluss“-Tagen zeigen, wie tief der Antisemitismus in der österreichischen Bevölkerung verankert war – und sie signalisierten dem NS-Regime, dass kein Widerstand gegen die antijüdische Politik zu erwarten war. Die Eskalation der Gewalt in Wien bewirkte eine Verschärfung der judenfeindlichen Maßnahmen im gesamten Deutschen Reich. Nach Wiener Vorbild inszenierte Joseph Goebbels mit der „Juni-Aktion“ 1938 Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung in Berlin. Aber erst beim Novemberpogrom 1938 wurden die Verfolgungsmaßnahmen im „Altreich“ ebenso brutal wie in Österreich umgesetzt.

Behördlicher Terror: Adolf Eichmanns „Zentralstelle“

Bei der Verschärfung der antisemitischen Vorgangsweise nach dem „Anschluss“ spielte Adolf Eichmann eine zentrale Rolle. Eichmann, Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts (SD) der SS im Berliner SD-Hauptamt, befand sich ab 16. März 1938 in Wien. Zwei Tage später führte der SD eine Razzia in der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) durch. IKG-Präsident Desider Friedmann (1880–1944 Auschwitz) und weitere leitende Amtsträger wurden verhaftet, die IKG wurde gesperrt.

Am 2. Mai 1938 erfolgte die Wiedereröffnung der Kultusgemeinde, sie stand nun unter strenger Kontrolle des Sicherheitsdienstes der SS und insbesondere Eichmanns. Die wichtigste Aufgabe der IKG bestand darin, so vielen Mitgliedern wie möglich die Ausreise zu ermöglichen. Sie war auch gezwungen, mit der neuen NS-Behörde zu kooperieren, die Eichmann im August 1938 in Wien aufbaute: die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ im „arisierten“ Palais Rothschild in der Prinz-Eugen-Straße, heute Sitz der Arbeiterkammer. Die „Zentralstelle“ verfolgte das Ziel, die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung möglichst effizient und rasch zu organisieren.

Razzia in der Israelitischen Kultusgemeinde Wien am 18. März 1938. Rechts von Josef Löwenherz, Amtsdirektor der Kultusgemeinde, die SS-Männer Herbert Hagen und Adolf Eichmann, Wien 1., Amtsgebäude der Israelitischen Kultusgemeinde, Seitenstettengasse 2–4
Bundesarchiv, Bundesbildstelle Koblenz
Razzia in der Israelitischen Kultusgemeinde Wien am 18. März 1938. Rechts von Josef Löwenherz, Amtsdirektor der Kultusgemeinde, die SS-Männer Herbert Hagen und Adolf Eichmann, Wien 1., Amtsgebäude der Israelitischen Kultusgemeinde

Durch den Verlust ihrer Existenzgrundlage und den antisemitischen Terror sahen sich Jüdinnen und Juden gezwungen, so rasch wie möglich auszuwandern. Dabei mussten sie horrende Abgaben leisten und ihr Vermögen zurücklassen. Im Mai 1939 vermeldete der „Völkische Beobachter“ den „Erfolg“ der „Zentralstelle“: Mehr als 100.000 Jüdinnen und Juden hatten das Land verlassen. Nach Wiener Vorbild wurden „Zentralstellen“ in Berlin, Prag und Amsterdam eingerichtet. Die in Wien entwickelte Bürokratie des Terrors bildete das Sprungbrett für Eichmanns Karriere im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin.

Sollte als erste Großstadt „judenfrei“ gemacht werden

Am 2. Oktober 1940 lud Adolf Hitler zu einem privaten Essen für den Generalgouverneur der besetzten polnischen Gebiete, Hans Frank, in seine Berliner Wohnung. Unter den Gästen befand sich auch der wenige Monate zuvor ernannte Wiener Reichsstatthalter und Gauleiter Baldur von Schirach. Der ehrgeizige Schirach nutzte die Gelegenheit und schlug vor, die in Wien lebenden Jüdinnen und Juden in das Generalgouvernement zu deportieren. Schirachs Plan war es, Wien als erste Großstadt des Deutschen Reiches „judenfrei“ zu machen.

Frank lehnte dieses Vorhaben als undurchführbar ab, Hitler sollte jedoch anders verfügen. Anfang Dezember erhielt Schirach die schriftliche Bewilligung: Der „Führer“ hatte entschieden, dass die „im Reichsgau Wien noch wohnhaften 60.000 Juden beschleunigt, also noch während des Krieges“, in das Generalgouvernement „abgeschoben werden“. Zu diesem Zeitpunkt zählte die noch in Wien verbliebene jüdische Bevölkerung 61.135 Personen, darunter auch Jüdinnen und Juden aus den Bundesländern, die bis auf wenige Ausnahmen bereits alle nach Wien vertrieben worden waren.

1941/42 „Vorbereitung eines Transportes. Gepäcksverladung“, aus dem Fotoalbum „Aus meiner Dienstzeit“ von Josef Weiszl. Auf dem rechten Foto im Vordergrund SS-Unterscharführer Josef Weiszl (1912–1984), Mitarbeiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, im Hintergrund jüdische Zwangsarbeiter. Die Aufnahmen aus der Sperlgasse 2a in diesem Album sind die einzigen bekannten Fotografien eines Wiener Sammellagers.
Wiener Stadt- und Landesarchiv
1941/42 „Vorbereitung eines Transportes. Gepäcksverladung“, aus dem Fotoalbum „Aus meiner Dienstzeit“ von Josef Weiszl. Die Aufnahmen aus der Sperlgasse 2a in diesem Album sind die einzigen bekannten Fotografien eines Wiener Sammellagers.

„Zentralstelle“ als Schaltstelle der Deportationen

Nach der Genehmigung der Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Wien wurde Eichmanns „Judenreferat“ im RSHA umgehend tätig. Im Jänner 1941 wurden Richtlinien für systematische Massentransporte erstellt. Die Gestapo-Leitstelle Wien und die von Eichmanns Nachfolger Alois Brunner geleitete „Zentralstelle“ waren dabei federführend eingebunden. Ab 1941 wurde die Wiener „Zentralstelle“ zur Schaltstelle für die Organisation der Deportationen aus Wien. Monate vor Beginn der reichsweiten Transporte wurde in Wien im Frühjahr 1941 die Organisation der großen Deportationen entwickelt und erprobt.

Dabei wurden jeweils rund 1.000 Personen in eigens eingerichteten Sammellagern im 2. Bezirk interniert, ihre Personalien überprüft, ein Vermögensverzicht musste unterschrieben werden. Fünf Transporte mit je 1.000 Personen gingen im Februar und März vom Wiener Aspangbahnhof in polnische Kleinstädte ab, dann führten die militärischen Vorbereitungen des Kriegs gegen die Sowjetunion zu einer Unterbrechung. Am 15. Oktober 1941 wurden die Deportationen reichsweit aufgenommen. Ziel war nun nicht mehr die Abschiebung, sondern die Ermordung der jüdischen Bevölkerung.

Insgesamt wurden zwischen Februar 1941 und Oktober 1942 über 45.600 Jüdinnen und Juden in 45 Transporten vom Wiener Aspangbahnhof in die Ghettos, Vernichtungslager und Mordstätten im „Osten“ geführt. Von ihnen überlebten nur etwa 2.100 Personen. Jüdinnen und Juden wurden auch in europäischen Zufluchtsländern von den Nationalsozialisten eingeholt und deportiert. Insgesamt beträgt die Zahl der österreichischen Schoah-Opfer mehr als 66.000 Personen.