Sigmund Freud posiert 1931 für eine Büste von Oscar Nemon, der Künstler steht daneben
Associated Press
Associated Press
Sigmund Freud

Als Übersetzer ein Frevler

Sigmund Freud ist nicht nur ein Vielschreiber gewesen, er hat auch zahlreiche Bücher übersetzt. Die Palette der Themen reichte von Politik, Philosophie und Neurologie bis zur Liebe zu Hunden. Sein Talent setzte Freud mitunter auch strategisch ein – und wurde als Übersetzer in seinen eigenen Worten zum „Frevler an seinem Autor“.

„Übersetzung“ im weiteren Sinne – etwa von Träumen und neurotischen Symptomen – ist für die gesamte Psychoanalyse zentral. Wie dieses zentrale Konzept mit den konkreten Übersetzungsarbeiten Freuds zusammenhängt, untersucht die Literaturwissenschaftlerin Esther Kilchmann, aktuell als Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien.

Bei den Mills noch unsichtbar …

Als Übersetzer betätigte sich Freud vor allem am Beginn und am Ende seiner jahrzehntelangen Karriere. Als Student mit 23 Jahren übersetzte er Werke des britischen Philosophen John Stuart Mill und seiner Ehefrau, der Frauenrechtlerin Harriet Taylor Mill. Themen waren Frauen- und soziale Emanzipation, „Freud verhielt sich hier nach dem Muster des ‚unsichtbaren Übersetzers‘, griff also inhaltlich nicht in die Vorlage ein, sondern übertrug Mills Text sinngetreu ins Deutsche“, so Kilchmann.

Porträtfoto der Literaturwissenschaftlerin Esther Kilchmann
IFK

Vortrag

Esther Kilchmann hält am 22. November 2021, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel „Sigmund Freud als Übersetzer. Transnationale und -disziplinäre Vermittlung“, er findet hybrid statt.

Anders war das bei den Texten von Jean-Marie Charcot, dem französischen Neurologen, dessen Vorlesungen und Hypnosetechniken Freud in den 1880er Jahren in Paris bewunderte. Charcot wurde zu einem wichtigen Vorläufer der psychoanalytischen Technik, die Abgrenzung davon zeigt sich auch in Freuds Übersetzung von Charcot-Schriften. „Wir lesen darin nicht nur den verdeutschten Charcot, sondern bereits den Freud-Kommentar mit“, sagt Kilchmann. Freud machte gleich zwölf kritische Anmerkungen in seiner Übersetzung, immer unter dem Motto „Hier hat Charcot übersehen, dass man das ganz anders deuten muss.“

… bei Charcot dann ein Frevler

Anmerkungen dieser Art verwenden Übersetzerinnen und Übersetzern üblicherweise nur sehr spärlich, die meisten wollen „dem Text dienen“ und ihn in eine andere Sprache und Kultur übertragen. „Freud macht das anders, er nützt sie bei Charcot und später auch beim Psychiater Hippolyte Bernheim für eigene Kommentare.“ Sehr zum Missfallen der Übersetzten – Charcot wollte mit der Übersetzung eigentlich dafür sorgen, im deutschen Sprachraum besser rezipiert zu werden. Nach Freuds Kommentaren, die Charcots Behandlungsmethode als überholt darstellte, war dies obsolet. Charcot reagierte verstimmt, zu einem Bruch zwischen den beiden kam es aber nicht. Der französische Neurologe verstarb kurz darauf, und Freud verfasste einen lobenden Nachruf.

Wie strategisch Freuds kritische Übersetzung war, ist heute nicht bekannt – die Quellenlage aus dieser Zeit ist eher dürftig, es gibt nur vereinzelte Briefstellen dazu. Kilchmann verweist aber auf Stellen aus dem Buch „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“, das Freud 1906 schrieb. Als Beispiel für einen „Modifikationswitz“ zitierte er darin den bekannten Ausruf: „Traduttore — Traditore! (Übersetzer – Verräter!) Die fast bis zur Identität gehende Ähnlichkeit der beiden Worte ergibt eine sehr eindrucksvolle Darstellung der Notwendigkeit, die den Übersetzer zum Frevler an seinem Autor werden lässt.“ Kilchmann hält es für möglich, dass Freud dabei auch an seine Charcot-Übersetzungen dachte, Freud sich des Frevels an seinem wichtigen Vorgänger aus Paris also durchaus bewusst war.

Handgeschriebener Brief von Sigmund Freud
Associated Press
Handgeschriebener Brief von Sigmund Freud

Psychoanalyse – ein mehrsprachiges Unterfangen

Das Übersetzen ist für die Psychoanalyse generell ein umfassendes Konzept. Im engeren Sinne der Übertragung bezeichnet es die Reaktivierung verdrängter, aus der Kindheit stammender Gefühle auf neue soziale Beziehungen – oder die Verschiebung unbewusster Wünsche in Träume. „Es ist interessant, dass Freud dafür das Modell des ‚Übersetzens‘ verwendet und nicht etwa ‚Deuten‘ oder ‚Erklären‘“, erzählt Kilchmann. Ihre Hypothese: Grundlage für das Heranziehen dieses Modells war Freuds persönliche Übersetzerpraxis in der Frühphase der Psychoanalyse, die Ende des 19. Jahrhunderts noch dazu eine alltägliche Erfahrung war.

Ganz besonders galt das für die mitteleuropäisch-jüdische Kultur dieser Zeit, in der Mehrsprachigkeit und damit verbundene Übersetzungen eine große Rolle spielten. Ein Neben- und Miteinander von Jiddisch, Hebräisch, slawischen Sprachen und Deutsch war hier Regel und nicht Ausnahme. Freud selbst wuchs zwar deutschsprachig auf, erwarb sich aber bereits als Schüler und Student autodidaktisch Englisch-, Spanisch- und Italienischkenntnisse und lernte intensiv Französisch, das als einzige moderne Fremdsprache an der Schule gründlicher unterrichtet wurde.

Im Gegensatz dazu hatte Mehrsprachigkeit in der Gesellschaft von damals keinen guten Ruf. „Es gab in den Wörterbüchern keinen positiven Begriff für Zweisprachigkeit. ‚Bilinguisch‘ kam zwar vor, aber das stand für ‚doppelzüngig‘ und ‚falsches Sprechen‘“, erzählt Kilchmann. Für Freud war das anders, er sprach etwa davon, dass manifester und latenter Traum wie in zwei verschiedenen Sprachen verfasst seien, und begriff Mehrsprachigkeit als Mittel der Verständigung und Problemlösung. Die Patientinnen und Patienten der Psychoanalyse waren zudem sehr oft bildungsbürgerlich mehrsprachig, es galt daher auch aus praktischen Gründen, in verschiedenen Sprachen „genau auf die Sprache zu achten“.

Sigmund Freud 1937 in seinem Wiener Arbeitszimmer mit seinem Chow-chow, „Jofi“
Associated Press
Sigmund Freud 1937 in seinem Wiener Arbeitszimmer mit seinem Chow-chow, „Jofi“

Hunde geben „Ruhe vom Menschlichen“

So wie zu Beginn seiner Karriere übersetzte Sigmund Freud auch an ihrem Ende ein Buch: Als die Nazis im Frühjahr 1938 die Macht in Wien übernommen hatten und er auf die Ausreise nach London wartete, übersetzte er gemeinsam mit seiner Tochter Anna ein Buch von Marie Bonaparte, einer ehemaligen Patientin und Schülerin Freuds, aus dem Französischen. Bonaparte würdigt in „Topsy“ ihren geliebten Hund, einen Chow-Chow, der an Krebs erkrankte. Sie analysiert ihre Liebe zu dem Hund und ihre eigene Übertragung – nämlich wie sie die Angst um den Hund an den Krebstod ihres Vaters erinnert. Freud, selbst Chow-Chow-Herrchen und -Fan, kann Bonapartes Gedanken zu dieser Übertragung viel abgewinnen.

„Der psychoanalytische Glauben, dass es prinzipiell so etwas wie Übersetzbarkeit gibt, wird hier nochmals geweitet – über die Sphäre des Menschlichen hinaus“, sagt Esther Kilchmann. „Übersetzung wird zu etwas, in dem man immer über Grenzen hinweggehen kann.“ Eine Art transhumanistischer Ansatz, der mitten ins Herz der Gefühle trifft. „Freud wurde durch die Übersetzung von Bonapartes Buch vielleicht klar, warum er selbst Chow-Chows so liebte. Das Positive an Hunden ist aus Sicht Bonapartes und Freuds, dass sie so unambivalent sind – wenn Hunde jemanden lieben, dann lieben sie ihn. Und wenn sie jemanden hassen, hassen sie ihn.“ Was im Gegensatz steht zu all den ambivalenten Gefühlen, die Menschen haben und sich etwa auf der Couch der Psychoanalyse entwirren lassen. „Bonaparte schreibt von der ‚Erholung vom Menschlichen durch den Hund‘ und Freud übersetzt das mit ‚Ruhe‘“, so Kilchmann.

Eine Ruhe, die Freud vielleicht auch ein wenig mit der Übersetzung des Buchs in einer tristen Zeit fand – seine Vertreibung durch die Nazis stand bevor, die weltpolitische Lage spitzte sich zu. In London lebte Freud dann noch ein Jahr, gemeinsam mit seiner Chow-Chow-Hündin Lün. Bonapartes Topsy überlebt übrigens seine Krebserkrankung – ihr Buch und Freuds Übersetzung machen also durchaus Hoffnung.