Künstlerische Darstellung: menschliches Gehirn mit Computerchips
Prostock-studio – stock.adobe.co
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DeepMind

Künstliche Intelligenz als Forscherin

Ein lernfähiges Computerprogramm der Firma DeepMind hat ein physikalisches Problem gelöst, an dem Fachleute bisher gescheitert sind. Ist das bereits eine künstliche Kreativität? Die Entwickler winken ab: „Die Maschine ist ein Werkzeug.“

Dass sich mit dem sogenannten Reinforcement Learning in neuronalen Netzwerken erstaunliche Fortschritte erzielen lassen, hat die Londoner Firma DeepMind schon mehrfach unter Beweis gestellt. Für Aufsehen sorgte etwa vor vier Jahren das Programm AlphaZero, das sich innerhalb weniger Stunden Schach selbst beibrachte und danach zum Duell mit Stockfish, den bisherigen Regenten im Computerschach, antrat.

Die Bilanz war eindeutig, Stockfish hatte gegen das autodidaktische Programm aus dem Hause DeepMind keine Chance. Der englische Schachgroßmeister Daniel King analysierte damals die Partien zwischen den beiden Maschinen in seinem Videoblog – auffällig daran: King konnte nicht umhin, AlphaZeros Spiel mit Begriffen zu beschreiben, die man ansonsten für menschliche Akteure verwenden würde.

Da war von „langfristigen Plänen“ und von „positionellen Vorlieben“ die Rede; und von AlphaZeros Angewohnheit, großzügig Figuren zu opfern, sofern sich dadurch die Chance auf aktives Spiel ergab.

Defekte in der Theorie

Aktiv in einem bisher dem Menschen vorbehaltenen Betätigungsfeld ist auch der jüngste Spross der DeepMind-Programmfamilie. DeepMind 21 ist ein künstliches neuronales Netz, das wissenschaftliche Probleme lösen kann. Im konkreten Fall hat sich das Programm in die sogenannte Dichtefunktionaltheorie (DFT) eingearbeitet – die Theorie wurde in den 1960ern von dem aus Österreich stammenden Physiker Walter Kohn entwickelt, der dafür 1998 den Chemie-Nobelpreis erhielt.

Studie

„Pushing the Frontiers of Density Functionals by Solving the Fractional Electron Problem“, Science (9.12.21)

Ö1-Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 20.12., 13:55 Uhr.

„Die DFT beschreibt im Wesentlichen, wie sich die Energie in einem Molekül durch die Wechselwirkung von Elektronen verteilt. Sie war extrem erfolgreich und wird von vielen Chemikern und Materialwissenschaftlern verwendet“, sagt James Kirkpatrick, der Leiter des DeepMind-21-Forschungsteams. „Doch trotz ihres Erfolges und ihrer Popularität hat die Theorie einige schwerwiegend Defekte.“

Maschine spuckt die Lösung aus

Welche Eigenschaften ein bestimmtes Material hat, kann man mit Hilfe der DFT berechnen, doch bei manchen Fragestellungen spuckte das Modell absurde Ergebnisse aus. Und zwar dort, wo die Physik in die Chemie übergeht: Um das Verhalten von Atomen zu beschreiben, gehen Physiker in ihren Modellen davon aus, dass es so etwas wie “fraktionierte“, also geteilte Elektronen gibt.

Das ist physikalisch gesehen natürlich falsch, sagt Kirkpatrick. „Elektronen sind immer ganz.“ Chemisch gesehen macht diese Annahme indes Sinn, denn wenn sich zwei Atome zu einem Molekül vereinigen, kann es sehr wohl vorkommen, dass sie sich Elektronen „teilen“. Im einfachsten Fall des H2-Moleküls etwa gehört ein Elektronenpaar sowohl zum einen wie auch zum anderen Wasserstoff, ihr Aufenthaltsort ist verschmiert.

Mit den „fraktionierten“ Elektronen der Physik wollte das jedenfalls nicht zusammenpassen – bis DeepMind 21 ins Spiel kam. Kirkpatrick und sein Team fütterten die selbstlernende Software mit den Daten von mehr als 2.000 chemischen Reaktionen und legten ihr dann neue Probleme vor, Resultat: Die Maschinenintelligenz entwickelte eine neue Variante der DFT, die keine absurden Rechenergebnisse liefert und außerdem präziser arbeitet als die bisherigen Beschreibungen der Elektronen.

Laut Studien-Coautor Aron Cohen ist damit ein Pfad eröffnet hin zu einer Universaltheorie, die viele, vielleicht sogar alle chemischen Systeme beschreiben könnte. „Das ist erst der Anfang. Ich hoffe, dass wir in Zukunft noch große Fortschritte machen werden.“

“Wird uns Wissenschaftler nicht ersetzen“

Die Probleme bei den Berechnungen hat die Maschine also gelöst, kann man auch behaupten, dass sie kreativ war? So ähnlich, wie das auch bei AlphaZero behauptet wurde? Kirkpatrick bleibt zurückhaltend: „Ich würde sagen, die Maschine hat uns von der Bürde befreit, nach einer Lösung zu suchen. Wenn Wissenschaftler versuchen, chemische Reaktionen zu berechnen, schreiben sie die Formeln normalerweise auf ein Blatt Papier. Bei DeepMind 21 war das anders: Das Programm hat ausschließlich aus Daten gelernt und dann sein Ding gemacht. Ob es dabei kreativ war? Schwer zu sagen, ich glaube, das ist eine philosophische Frage, über die ich besser nicht spekulieren möchte.“

Cohen fügt hinzu: „Ich denke, die Kreativität liegt bei uns, die Maschine ist ein Werkzeug. Sie wird uns Wissenschaftler nicht ersetzen.“ Was sich laut Kirkpatrick aber sehr wohl in absehbarer Zeit verändern könnte, ist das Denken – seines und das seiner Kollegen: „Statt über Lösungen nachzugrübeln werden wir mehr Zeit für neue Probleme verwenden. Wir werden mehr über Daten nachdenken müssen.“