Getreidefeld in der Ukraine
AFP – ANDREY BORODULIN
AFP – ANDREY BORODULIN
Welternährung

„Ernährungskrise ist Verteilungskrise“

Die Hälfte der ukrainischen Schwarzmeer-Häfen ist wieder offen, und Getreide kann nach Afrika geliefert werden. Die globale Ernährungskrise wird dadurch aber nicht gelöst. Sie habe sich bereits in den vergangenen Jahren aufgebaut und sei im Grunde eine Verteilungskrise, sagt Martin Frick vom Welternährungsprogramm.

345 Millionen Menschen gelten derzeit als akut ernährungsunsicher. Das heißt: Ihre Fähigkeit, sich ausreichend zu ernähren, ist unmittelbar gefährdet, berichtet Martin Frick, Leiter des globalen Büros des Welternährungsprogramms in Berlin (World Food Programme). „Das ist für sich genommen bereits eine schockierende Zahl. Aber wenn ich dazu sage, dass wir 2019 noch bei 150 Millionen waren, dann sieht man, wie dramatisch die Entwicklung ist.“

Ernährungskrise hat vielfältige Ursachen

Zwar hätten mittlerweile rund 50 Getreideschiffe und damit zirka 600.000 Tonnen die ukrainischen Häfen verlassen. Vor dem Krieg hätte die Ukraine jedoch monatlich sechs Millionen Tonnen Getreide exportiert, sagt Martin Frick. „Es ist bestimmt noch zu früh, Entwarnung zu geben.“

Vielfältige Faktoren hätten zur derzeitigen Ernährungskrise geführt: Die Anzahl der Kriege auf der Welt hat sich seit 2010 mehr als verdoppelt. Am Horn von Afrika herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren. Die Covid-19 Pandemie hat Lieferketten zusammen- und die Wirtschaftsleistung einbrechen lassen.

Getreidespekulationen treffen die Menschen in Afrika stark, denn sie sind abhängig von Importen und damit auch vom Weltmarktpreis. Zudem betragen die Inflationsraten in über 50 Ländern der Welt über 15 Prozent, in 36 Ländern über 25 Prozent, sagt Martin Frick. „Das heißt, die Menschen bezahlen doppelt: Sie brauchen viel Geld, um Dollar zu kaufen, und dann müssen Sie viele Dollar ausgeben, um Grundnahrungsmittel auf dem Weltmarkt kaufen zu können.“

Fruchtbare Böden gegen Hunger und Klimakrise

Es gebe keinen Grund, warum Afrika hungrig sein muss, betont Martin Frick. Würde man Kleinbäuerinnen und -bauern unterstützen, wäre der Kontinent sehr wohl in der Lage, genug Lebensmittel selbst zu produzieren. „Wir müssen nur stark investieren in die Kleinbäuerinnen, in die Kleinbauern, Land wiederherstellen, Land wieder urbar machen, aber auch Infrastruktur und Kühlketten herstellen. Das ist lange Zeit sehr vernachlässigt worden.“

Degradierte Böden wieder fruchtbarer zu machen, sei eine sehr einfache Maßnahme gegen den Hunger der Welt, meint der Experte für Ernährungssicherheit. Immerhin seien 80 Prozent der hungrigen Menschen auf der Welt Kleinbäuerinnen und -bauern. Auch sei es eine günstige Maßnahme zum Klimaschutz und zur Klimawandelanpassung, denn humusreiche Böden speichern mehr Kohlendioxid und können mehr Wasser halten. „Technische Lösungen wie Carbon Capture and Storage sind immer noch im Versuchsstadium, während wir seit dreieinhalb Milliarden Jahren wissen, dass Photosynthese funktioniert.“

Landwirtschaft und Biodiversität fördern

In Nigeria unterstützt das World Food Program (WFP) vorwiegend Frauen dabei, in hügeligem Gebiet Anbauflächen in Form kleiner Halbmonde anzulegen, erzählt Martin Frick. Regnet es, fließt das Wasser nicht sofort ab, sondern sammelt sich in diesen „Staubecken“, die mit Stroh, Dung und einem kleinen Baumsetzling befüllt sind. Durch den Schatten der Bäume soll der Boden gekühlt und für die Landwirtschaft besser nutzbar werden.

Auch der Anbau anderer und vielfältigerer Sorten, könne den Kleinbäuerinnen und -bauern helfen, sich gegen Klimaschocks abzusichern. Oft werde Getreide angebaut, da es sich leichter am Weltmarkt verkauft lässt, jedoch wären Sorten wie Sorghum oder Yam hitzeresistenter und wasserschonender im Anbau. „Wir propagieren die Rückbesinnung auf traditionelle Sorten und auch die Diversifizierung, sodass eine Bäuerin eben nicht nur eine Sorte anbaut, sondern eine Mischung aus drei, vier verschiedenen Dingen.“

Getreide wird vor allem als Tierfutter genutzt

Die derzeitige Krise sei eine Verteilungskrise, ist der Experte für Ernährungssicherheit überzeugt. „Es wäre wirklich genug für alle da. Uns gehen nicht die Lebensmittel aus.“ In Deutschland würden rund 60 Prozent der Getreideernte für Tierfutter genutzt und weitere rund 15 Prozent für Biosprit. „Nehme ich das zusammen, bin ich bei 75 Prozent, die gar nicht für menschlichen Verzehr genutzt werden.“ Hinzukommt die Lebensmittelverschwendung in reichen Ländern. Laut Schätzungen landen in Österreich jährlich eine Million Tonnen Lebensmittel im Müll.

Düstere Prognosen, auch fürs WFP

Die derzeitigen Prognosen in Bezug auf Ernährungssicherheit seien nicht gut, sagt Martin Frick. Zudem ist das World Food Programm mit einer massiven Finanzierungslücke konfrontiert. „Wir hatten im letzten Jahr ein Budget von neun Milliarden US-Dollar. Es war das größte unserer Geschichte, und es war trotzdem 43 Prozent zu wenig.“ Diese Jahr bräuchte das WFP für seine Arbeit etwas über 22 Milliarden US-Dollar, erst sechs Milliarden konnten bisher lukriert werden.