Menschen in der Londoner Oxford Street, teils mit Nasen-Mund-Schutz
APA/AFP/Daniel LEAL
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US-Studie

Pandemie veränderte Persönlichkeit

Die Persönlichkeit eines Menschen gilt als relativ stabil – grundlegende Eigenschaften verändern sich kaum oder nur sehr langsam. Wie eine US-Studie nun nahelegt, hat aber die CoV-Pandemie sogar eigentlich stabile Charakterzüge verändert, zumindest kurzfristig.

Neurotizismus, Extraversion, Offenheit, Gewissenhaftigkeit und Verträglichkeit – anhand dieser fünf Merkmale („Big Five“) teilen Psychologinnen und Psychologen die Persönlichkeiten von Menschen ein. Das Standardmodell geht davon aus, dass sich diese Charakterzüge ab einem gewissen Alter kaum verändern und wenn, dann sehr langsam: Laut einer älteren Studie verändern wir uns nur alle zehn Jahre ein kleines bisschen.

Belastende Ereignisse wie Erdbeben und Wirbelstürme spielen dabei kaum eine Rolle. Das zeigen zumindest Untersuchungen nach derartigen Naturkatastrophen. Die CoV-Pandemie, die die ganze Welt und über lange Zeiträume beinahe jeden Aspekt des Lebens betraf, könnte in dieser Hinsicht eine Ausnahme sein. Das legt jedenfalls eine soeben im Fachmagazin „PLOS ONE“ erschienene Arbeit nahe. Dafür wurden Daten von mehr als 7.000 US-Amerikanern und -Amerikanerinnen im Alter von 18 bis 109 Jahren ausgewertet, die für die Langzeitstudie „Understanding America Study“ regelmäßig befragt werden.

Zu Beginn weniger neurotisch

Zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 konnte das Team um Angelina R. Sutin vom Florida State University College of Medicine nur bei einer der fünf Persönlichkeitsdimensionen eine Veränderung feststellen, beim Neurotizismus. Menschen mit einer hohen Ausprägung sind meist labil, ängstlich und verletzlich. Die Werte in der Anfangsphase der Pandemie waren im Schnitt geringer als davor, insbesondere bei älteren Menschen. Das sei besonders überraschend, da in dieser Zeit auch Depressionen und Ängste zugenommen haben.

Es gibt laut den Forscherinnen und Forschern aber Erklärungen für diesen Widerspruch: Ängstliche und leicht gestresste Menschen hatten nun eine bessere Erklärung für ihre Gefühle. Außerdem halfen Verhaltensmaßnahmen wie Hände waschen, Maske tragen und Social Distancing vermutlich, besser mit Ängsten umzugehen. Auch die Aufforderung, auf sich selbst zu achten, könnte hilfreich gewesen sein. Der anfänglich beobachtete soziale Zusammenhalt könnte den individuellen Neurotizismus ebenfalls gedämpft haben. Und im Vergleich mit anderen ging es diesen labilen Menschen womöglich damals sogar relativ gut.

Weniger offen und gewissenhaft

Wie die Studienautoren und -autorinnen feststellten, gingen diese positiven Effekte jedoch im Lauf der Pandemie verloren, der allgemeine Neurotizismus war wieder auf vorpandemisches Niveau gestiegen. Dafür waren zwischen 2021 und 2022 plötzlich statistisch signifikante Veränderungen in allen vier anderen Persönlichkeitsdimensionen nachweisbar. Es könnte sein, dass sich manche Einschnitte ins alltägliche Leben erst langfristig auswirken, heißt es in der Studie, aber auch die Stimmung, die sich mit der andauernden Pandemie deutlich veränderte, könnte eine Rolle gespielt haben.

Unter anderem sanken die Werte bei der Extraversion. Ein Jahr des erzwungenen oder mitunter auch freiwilligen sozialen Rückzugs könnte laut dem Team dazu geführt haben, dass sich Menschen im Schnitt introvertierter fühlten. Auch die Gewissenhaftigkeit hatte unter der andauernden Pandemie gelitten – fehlende Strukturen und Stabilität haben es wohl vielen über die lange Zeit zunehmend erschwert, sich zu organisieren und Verpflichtungen einzuhalten.

Bei der Verträglichkeit und der Offenheit gab es ebenfalls einen Abfall: Anhaltende Unsicherheit, gesellschaftliche Verwerfungen und eine geringere Mobilität könnten dazu beigetragen haben, dass sich Menschen im Schnitt weniger für Neues interessierten und gleichzeitig misstrauisch wurden.

Junge besonders betroffen

Insgesamt waren die Abweichungen nicht drastisch, aber der Grad der Veränderung entsprach in etwa jenem, der normalerweise nach einem Jahrzehnt nachweisbar ist. Allerdings waren nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen betroffen.

Besonders bei jungen Erwachsenen hat die Pandemie anscheinend Spuren in der Persönlichkeit hinterlassen. Laut den Forscherinnen und Forschern waren sie launischer, stressanfälliger, misstrauischer und weniger gewissenhaft, als das in dieser Altersgruppe ansonsten der Fall ist. Normalerweise werde die Persönlichkeit in dieser Lebensphase stabiler und verträglicher.

Sollten die gemessenen Veränderungen nicht nur vorübergehend sein – was sich derzeit noch nicht beurteilen lässt -, sind für diese Altersgruppe auch langfristige Folgen zu befürchten, heißt es in der Studie. Besonders die Gewissenhaftigkeit sei für ein erfolgreiches und gesundes Leben zentral.

US-spezifische Daten

Ebenfalls überdurchschnittlich von den Veränderungen betroffen waren laut der Auswertung Menschen mit lateinamerikanisch-hispanischen Wurzeln. Diese Gruppe habe gesundheitlich und ökonomisch auch besonders unter der Pandemie gelitten.

Wie das Team betont, könnten in den USA auch andere belastende kollektive Ereignisse eine Rolle gespielt haben, etwa der Tod von George Floyd und die darauffolgenden Unruhen und der Sturm auf das Kapitol durch Anhänger von Ex-Präsident Donald Trump. Abgesehen davon könnten Untersuchungen in anderen Ländern generell zu anderen Ergebnissen kommen. Nicht nur die Kulturen und Menschen unterscheiden sich, auch beim Umgang mit der Pandemie, bei Maßnahmen und Einschränkungen gab es weltweit große Differenzen.