Menschen in der Londoner Oxford Street, teils mit Nasen-Mund-Schutz
APA/AFP/Daniel LEAL
APA/AFP/Daniel LEAL

Immunschutz der Bevölkerung besser als gedacht

Neue Coronaviren, die den Impfschutz – so scheint es – immer besser umgehen können: Dieser Befund hat die mediale Berichterstattung in den letzten Monaten dominiert – doch das ist nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich sieht es mit der Immunität der Bevölkerung gut aus.

Frankreich ist das erste Land, in dem die neue Omikron-Variante BQ.1.1 das Infektionsgeschehen dominiert. Doch die große Welle ist dort bisher ausgeblieben, dem Virus fällt es offenbar immer schwerer Menschen zu infizieren, abzulesen an der derzeit fallenden Kennzahl für die Virusreproduktion.

Für Andreas Radbruch ist das keine Überraschung. „Das Virus hat es ja auch nicht leicht“, sagt der deutsche Immunologe im ORF-Interview. Und meint damit einen Spagat, den das Virus leisten muss, um sich reproduzieren zu können. Einerseits ist der Erreger genötigt, sich immer weiter zu verändern, damit er den Abwehrlinien des Immunsystems entgehen kann. Andererseits muss trotz aller Mutationen die Bindungsfähigkeit an den ACE2-Rezeptor erhalten bleiben, die Eintrittspforte in menschliche Zellen. Und dieser Kompromiss enge den Spielraum des Virus zusehends ein, sagt Radbruch.

„Verteidigungslinien fangen Virus ein“

Verantwortlich dafür sei auch die Fähigkeit des Immunsystems, nach Kontakt mit dem Erreger die eigenen Abwehrreihen an diesen anzupassen, also im Verlauf von Monaten immer besser bindende Antikörper zu bilden. „Affinitätsreifung“ heißt dieser Vorgang, bei dem per Mutation auch solche Antikörper gebildet werden, die neue Virusvarianten gewissermaßen vorwegnehmen.

Varianten wie BQ.1.1 treffen das Immunsystem also keineswegs unvorbereitet, betont Radbruch. „Die gute Nachricht ist, dass uns das Immunsystem sehr gut davor schützt, schwer zu erkranken. Das liegt nicht nur an den Antikörpern, sondern auch an T-Lymphozyten und den natürlichen Killerzellen, die infizierte Zellen umbringen. Wir haben also verschiedene Verteidigungslinien, die das Virus einfangen, bevor es im Körper größeren Schaden anrichten kann.“

„Antikörper-Schieflage“ in öffentlicher Debatte

Dass in der Öffentlichkeit mitunter der Eindruck entstanden ist, der Schutz der Impfung nehme immer weiter ab – also das Gegenteil dessen, was tatsächlich der Fall ist, hat wohl auch damit zu tun, dass man sich in der Debatte zu sehr auf Laborversuche mit neutralisierenden Antikörpern konzentriert hat. Radbruch ortet hier eine "Schieflage“, die der realen Situation nicht gerecht werde.

Das dürfte zwei Gründe haben: Zum einen sind Zellversuche mit neutralisierenden Antikörpern relativ einfach durchzuführen und daher die erste Orientierungsmarke, wenn es darum geht, die Wirksamkeit von neuen Impfstoffen zu untersuchen. Fazit bisher: Den neuen Omikron-Varianten ist es tatsächlich gelungen, sich dieser einen Abwehrlinie immer besser zu entziehen – nur sagt das eben wenig über den Rest des Immunsystems aus.

Mehr Atemwegsinfekte durch Influenza- und Rhinoviren

Neben diesen methodischen Motiven hat der Fokus auch Ursprünge in der Frühphase der Pandemie, als man die Hoffnung hegte, die neutralisierenden Antikörper könnten für eine sterile Infektion sorgen, also vor einer Ansteckung schützen. Dies habe sich nicht bewahrheitet, sagt Radbruch. „Aber man verabschiedet sich nicht von dem alten Narrativ. Und denkt immer noch, die neutralisierenden Antikörper sind das einzig Wahre. Doch sie sind kein Korrelat für Schutz vor Ansteckung und auch kein Korrelat für Schutz vor schwerer Krankheit. Sie sind sozusagen ein Hobby der Immunologen.“

Untersuchungen des deutschen Robert Koch-Instituts zeigen, dass Coronaviren bei Atemwegsinfekten mittlerweile von Influenza- und Rhinoviren überholt wurden. Auch das könnte Ausdruck des immunologischen Widerstandes sein, dem sich der Erreger mitterweile gegenübersieht.