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Zamrznuti tonovi – stock.adobe.c
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Beziehungen

Starke Anziehung zu anderen kann täuschen

Beatles oder Stones, Katze oder Hund, die grüne oder die orangefarbene Twinni-Hälfte: Entdecken Menschen viele Gemeinsamkeiten, fühlen sie sich schnell zueinander hingezogen. Geteilte Interessen und Eigenschaften können laut einer Studie aber dazu führen, dass die Stärke der Verbindung überschätzt wird.

Die empfundene starke Anziehung könnte auf der voreiligen, falschen Annahme beruhen, dass die erlebten Gemeinsamkeiten Ausdruck einer tieferen Verbindung sind – „einer als naturgegeben erscheinenden Wesensähnlichkeit“, heißt es in der Studie, die nun im Fachjournal „Journal of Personality and Social Psychology“ veröffentlicht wurde.

„Wir mögen jemanden, der mit uns in einer politischen Frage übereinstimmt, unsere Musikvorlieben teilt oder einfach nur über das Gleiche lacht wie wir – nicht nur wegen der Ähnlichkeiten, sondern weil diese Ähnlichkeiten auf etwas anderes hindeuten, nämlich: Diese Person ist wie ich und teilt meine Ansichten über die Welt im Allgemeinen“, beschreibt Hauptautor Charles Chu von der Universität Boston das Phänomen.

Essenzialismus: Ein Wolf ist ein Wolf

Diese Denkweise werde von einer Art „psychologischem Essenzialismus“ angetrieben – von Vorstellungen über die eigene Identität. Chu vergleicht dies mit dem Einordnen in Kategorien von Tierarten bis Gender. „Menschen aller Kulturen ‚essenzialisieren‘ viele Dinge: Sie definieren sie durch eine Reihe tief verwurzelter und unveränderlicher Eigenschaften.“ Anders gesagt: einem Wesen – auf Latein „essentia“.

Als Beispiel nennt der Forscher die Kategorie „Wolf“: Das Wesen des Wolfes wohne allen Wölfen inne, es definiere sich durch Merkmale wie einer spitzen Nase, scharfen Zähnen und flauschigen Schwänzen, durch Rudelverhalten und Angriffslust. „All dies ist unveränderlich: Auch ein Wolf, der von Schafen aufgezogen wird, ist immer noch ein Wolf und entwickelt diese Merkmale.“

Ein Wolf heult
ORF Vorarlberg
Ein Wolf bleibt im Essenzialismus ein Wolf, auch wenn er von Schafen aufgezogen wird

Genauso wie andere Dinge, ordnen wir auch das eigene Selbst ein, sagt Chu: „Ich ‚essenzialisiere‘ mich, indem ich mich anhand einer Reihe fest verankerter Eigenschaften definiere – und das tun wir alle bis zu einem gewissen Grad, vor allem in den westlichen Gesellschaften. Wir gehen davon aus, dass unser Verhalten und das, was andere in uns sehen, auf solch ein unveränderliches Wesen zurückzuführen sind.“

Um besser zu verstehen, wie dies die Anziehungskraft zwischen Menschen beeinflusst, führten Chu und sein Kollege Brian S. Lowery von der Universität Stanford eine Reihe von Experimenten durch.

Einzelner Aspekte reicht schon aus

Im ersten Experiment wurden 954 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach ihrer Position zu einem von fünf gesellschaftspolitischen Themen gefragt: Abtreibung, Todesstrafe, Waffenbesitz, Tierversuche und ärztlich assistierter Suizid. Der Hälfte wurde danach von einer fiktiven Person erzählt, die mit ihrer Position übereinstimmte – der anderen Hälfte von einer Person, die dies nicht tat. Alle füllten dann einen Fragebogen aus, in dem sie angeben sollten, inwieweit sie glaubten, dass sie ihre Sicht auf die Welt mit der fiktiven Person teilten, inwieweit sie sich zu dieser Person hingezogen fühlten, und inwieweit sie daran glaubten, dass unsere Identität auf ein unveränderliches Wesen zurückzuführen sei.

Jene Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die in einem hohen Maß an „Selbstessenzialismus“ glaubten, fühlten sich eher zu der fiktiven Person hingezogen, die mit ihrer Position übereinstimmte. Und sie nahmen an, auch eine allgemeine Sicht auf die Welt mit dieser Person zu teilen.

Die gleichen Ergebnisse ergab ein Experiment, in dem 464 Teilnehmerinnen und Teilnehmer lediglich die Anzahl von farbigen Punkten auf einer Folie schätzen sollten. Der Glaube an eine tiefere Wesensähnlichkeit führte also sogar dazu, dass nur ein einzelner Aspekt, nämlich die gemeinsame Neigung, eine Anzahl von farbigen Punkten zu über- oder unterschätzen, ausreichte um zu glauben, dass jemand Fremder die Welt auf die gleiche Weise sieht – was wiederum zu einer größeren Anziehungskraft führte.

Klee oder Kandinsky?

In einem weiteren Experiment wurden 423 Personen Gemälde gezeigt und gefragt, welches sie bevorzugten. Anhand der Antworten teilten die Forscher die Probandinnen und Probanden entweder als Fans des Malers und Grafikers Paul Klee oder seines Kollegen Wassily Kandinsky ein. Der Hälfte jeder Gruppe wurde anschließend gesagt, dass die künstlerische Vorliebe Teil ihres Wesens sei. Diese Personen fühlten sich mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit zu einer fiktiven Person hingezogen, die ebenfalls entweder Klee oder Kandinsky bevorzugte, als die andere Hälfte, der gesagt wurde, dass es keinen Zusammenhang gebe.

Paul Klee: Fuge in Rot (1921), Malerei, Kunst, Bild, Ausstellung
AP
Paul Klee: Fuge in Rot (1921)
Wassily Kandinsky: Murnau mit Kirche II (1910), Malerei, Kunst, Bild, Ausstellung
AP
Wassily Kandinsky: Murnau mit Kirche II (1910)

In einem letzten Experiment wurden 449 Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer als Fans eines der beiden Künstler eingestuft. Diesmal wurde einem Drittel der Personen gesagt, dass essenzialistisches Denken zu genauen Eindrücken von anderen führt, einem Drittel wurde gesagt, dass es zu ungenauen Eindrücken von anderen führt, und ein Drittel erhielt keine Informationen.

Das Ergebnis deckte sich mit jenen der vorangegangenen Experimente: Das erste Drittel ging mit größerer Wahrscheinlichkeit als der Rest davon aus, dass fiktive Klee- oder Kandinsky-Fans ihre Weltanschauung teilten und gaben an, sich zu ihnen hingezogen zu fühlen.

„Menschen sind vielschichtiger“

Er sei sehr überrascht gewesen, dass etwas so Minimales wie die gemeinsame Vorliebe für einen Künstler dazu führen würde, dass Menschen annehmen, eine andere Person würde die Welt auf die gleiche Weise sehen wie sie selbst, so Chu. Diese essenzialistische Denkweise könne aber ein zweischneidiges Schwert sein.

„Immer dann, wenn wir nach ersten Eindrücken und sehr wenigen Informationen schnelle Urteile fällen, könnten wir von essenzialistischem Denken beeinflusst werden“, so der Wissenschaftler. „Menschen sind aber weit vielschichtiger, als wir ihnen oft zutrauen, und wir sollten uns vor voreiligen Annahmen hüten, die wir auf der Grundlage dieser Art des Denkens treffen.“