Die Mathematikerin Sandra Müller vor einer grünen Tafel
Lukas Wieselberg, ORF
Lukas Wieselberg, ORF
Mathematik

Unendlichkeit als Antidepressivum

Die Mathematikerin Sandra Müller beschäftigt sich mit den Grenzgebieten ihrer Zunft: „mittelgroße“ Unendlichkeiten und Zahlen, deren Existenz man nicht beweisen kann. Warum ihre Arbeit für Kollegen wie ein Antidepressivum wirken kann und sie „leider nicht gendern muss“, erklärt Müller im ORF-Gespräch.

Mit der Unendlichkeit in der Mathematik ist es so eine Sache: Wirklich intuitiv ist es nicht, dass es mehr als eine davon gibt. Denn was soll größer sein als unendlich? Aber schon in der Schule könnte man gelernt haben, dass sich Unendlichkeiten unterscheiden – etwa jene der natürlichen Zahlen (1, 2, 3 …) von jener der reellen (natürliche Zahlen plus Brüche und irrationale Zahlen wie Pi). Letztere beinhalten einfach sehr viel mehr Elemente, beide sind aber unendlich. Die Unendlichkeit der Menge reeller Zahlen ist „mächtiger“, wie es in der Mathematik heißt.

Das ist aber erst der Anfang. „Der deutsche Mathematiker Georg Cantor hat schon vor über 100 Jahren gezeigt, dass es unendlich viele Unendlichkeiten gibt“, sagt Müller gegenüber science.ORF.at. „Wenn man sich damit beschäftigt, findet man ganz viele Strukturen, und es ist faszinierend, wie sich die Unendlichkeiten verhalten.“

Unendlichkeit im mittleren „Preissegment“

Genau diesem Verhalten geht Müller an der Technischen Universität (TU) Wien nach – seit 2022 gefördert durch einen START-Preis des Wissenschaftsfonds FWF. Sie beschäftigt sich mit „mittelgroßen“ Unendlichkeiten, den Woodin-Kardinalzahlen. Hintergrund: Um die Größe bzw. Mächtigkeit von Unendlichkeiten zu ordnen, verwendet die Mathematik eine Art Preispickerl: die Kardinalzahlen. Woodin-Kardinalzahlen liegen im mittleren „Preissegment“. Es gibt also deutlich kleinere Unendlichkeiten, wie etwa jene der natürlichen Zahlen. Die Mathematik kennt aber auch deutlich größere Unendlichkeiten.

Die Mathematikerin Sandra Müller vor einer grünen Tafel
Lukas Wieselberg, ORF

Sandra Müller ist Assistenzprofessorin an der TU Wien, hat 2022 einen START-Preis des FWF sowie den Förderungspreis der Österreichischen Mathematischen Gesellschaft erhalten und ist Mitglied der Jungen Akademie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Das Problem: Je größer sie werden, desto schwieriger ist es, ihre Existenz zu beweisen. Das gilt bereits für die Woodin-Kardinalzahlen. „Sie liegen in einem Bereich, wo wir schon daran glauben, dass es sie noch gibt, auch wenn wir das nicht beweisen können. Sie fühlen sich natürlich an und haben viele tolle Konsequenzen“, sagt Müller.

Axiome: Was es mathematisch „gibt“

Für das ungeübte Ohr klingt das vielleicht etwas esoterisch. Das liegt daran, dass „es gibt“ in der Mathematik etwas anderes bedeutet als im Alltag. In Letzterem „gibt es“ etwa zwei oder drei Äpfel auf einem Tisch, weil man diese sehen, angreifen und abzählen kann. Das „es gibt“ in der Mathematik leitet sich aber aus ihren Axiomen ab. Und das sind Grundsätze, die man akzeptiert, aber letztlich nicht begründen kann – etwa, dass jeder Nachfolger einer natürlichen Zahl ebenfalls eine natürliche Zahl ist.

Mit den gängigen Axiomen (allen voran den ZFC-Axiomen) lässt sich die Existenz der Woodin-Kardinalzahlen nicht beweisen. „Man bräuchte dazu neue Axiome“, sagt Müller. „Man könnte aber auch sagen, die Existenz von diesen Woodin-Kardinalzahlen wäre ein solches neues Axiom.“ Doch auch ohne Existenzbeweis lässt sich mit ihnen rechnen.

Müller geht quasi davon aus, dass es Woodin-Kardinalzahlen gibt, und vergleicht sie mit einem weiteren Ansatz der Unendlichkeitsforschung: unendlichen Spielen. Zwei Personen suchen dabei etwa nach der größten Zahl – abwechselnd und unendlich lange. Auf Grundlage des Determiniertheitsaxioms gibt es dabei für alle solchen Spiele eine Gewinnstrategie. „Ich konnte zeigen, dass diese unendlichen Spiele auf vielen Ebenen mit der Existenz von Woodin-Kardinalzahlen übereinstimmen. Das grenzt sie ein und macht sie besser verständlich“, so Müller.

Die Mathematikerin Sandra Müller bei ihrem Vortrag im Rahmen der Arctic Set Theory Conference 2019
Rodrigo Hernández-Gutiérrez
Müller bei der Arctic Set Theory Conference 2019

Diskutieren, bis die Polarlichter kommen

Wichtigstes Arbeitsinstrument dabei ist eine drei Meter lange grüne Tafel in ihrem Büro am Institut für Diskrete Mathematik und Geometrie der TU Wien. Hier notiert Müller neue Ansätze, überarbeitet und verwirft sie immer wieder. Mathematik ist viel „vor sich Hindenken“, genauso wichtig ist aber auch der Austausch mit anderen. Ihr Privileg: Sie kann das auch mit dem Entdecker der Woodin-Kardinalzahlen tun, dem US-Mathematiker Hugh Woodin. Vor Jahren hat er ihre Doktorarbeit begutachtet, heute trifft sie ihn immer wieder auf Konferenzen.

Podcast-Hinweis

Alle Radiobeiträge zur Mathematik-Sommerserie in „Wissen aktuell“ sind als Podcast auf ORF Sound verfügbar.

„Eine meiner Lieblingskonferenzen, die Arctic Set Theory Conference, findet alle zwei Jahre im Jänner oder Februar in der Arktis statt, in Finnland, nördlich des Polarkreises“, erzählt Müller. „Da gibt es dann nur Schnee, Eis und ein paar Mengentheoretiker.“ Rund 40 von ihnen treffen sich in einer biologischen Forschungsstation der Universität Helsinki und diskutieren nahezu rund um die Uhr. „Zu Mittag, man hat vielleicht zwei, drei Stunden Tageslicht, geht man ein bisschen spazieren. Der Rest ist Mathematik“, so Müller.

Polarlichter bei der Arctic Set Theory Conference 2019
Vincenzo Dimonte
Polarlichter in der Nähe der Konferenz

„Manchmal bleibt man nachts auf, weil man die Polarlichter sehen möchte. Und ich bin da auch gemeinsam mit dem Hugh Woodin gesessen, und wir haben diskutiert, bis die Polarlichter kamen.“ Die Enge in der Forschungsstation fördere den Austausch – ein gutes Beispiel dafür, dass Mathematik auch Teamwork ist. „Viele neue Ideen kommen auch dadurch zustande, dass man sieht, was andere Leute machen – schließlich sind Mathematiker und Mathematikerinnen auch nur Menschen.“

Verstanden von maximal 100 anderen – Männern

Letzteres ist unbestreitbar, sehr viele sind es freilich nicht. Müller schätzt, dass weltweit nur 70 bis 100 Personen verstehen, was sie macht, und einschlägige Studien lesen können. Wien hat sich ihretwegen zum Ort mit der größten Dichte an Gleichgesinnten entwickelt. Dank START-Preis und weiteren internationalen Forschungsgeldern mit einer Gesamtdotation von 1,9 Millionen Euro wird Wien in den nächsten Jahren zum Weltzentrum für Woodin-Kardinalzahlen.

Acht einschlägig interessierte Mathematiker werden sich dann an der TU einfinden – und das ist nicht als generisches Maskulinum gemeint: „Ich würde ja gerne gendern“, sagt Müller, „aber in meinem Bereich gibt es echt nur männliche Kollegen.“ Sie sei weltweit die einzige Frau, die sich mit ihren Forschungsfragen beschäftigt. Frauenförderung liegt der Mathematikerin am Herzen, vielfach fehlen die Vorbilder. Immerhin: Eine Masterstudentin von ihr gibt Hoffnung – und könnte den Anteil der Expertinnen sprunghaft verdoppeln.

Teilnehmer der Arctic Set Theory Conference bei einem Ausflug
Rodrigo Hernández-Gutiérrez
Kurze Mathematikpause in der Arktis

Kann wie Antidepressivum wirken

Was Müller macht, ist Grundlagenforschung an der Grenze des Wissbaren. Die journalistisch unvermeidliche Frage nach möglichen Anwendungsgebieten scheint da fast vermessen. Aber nur fast, denn Müller findet eine Anwendung – diese liegt aber in der Mathematik selbst.

„Mathematiker in verschiedenen Disziplinen – von Algebra bis Analysis – versuchen oft jahrelang, verschiedene Vermutungen zu beweisen oder zu widerlegen. Mit Mengentheorie kann man zeigen, warum sie das nicht geschafft haben – eben, weil die Vermutungen aus den angewandten Axiomen nicht beweis- oder widerlegbar sind. Ich finde, das ist eine tolle Anwendung“, sagt Müller und stimmt dem Vergleich zu, dass dies wie ein Antidepressivum für die Zunft wirken könne.

Denn etwa mit Hilfe von Woodin-Kardinalzahlen lässt sich der Bereich des Wissbaren eingrenzen, ein mögliches Antidot für graue Haare in anderen Mathematikbereichen. „Ich versuche zu verstehen, was wir alles genau nicht verstehen. Damit verstehen wir das ein bisschen besser.“