Dreidimensionale Abbildung des Unendlichkeitssymbols
Dreava Bogdan / Westend61 / picturedesk.com
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Mathematik

Mehr Ordnung im „Unendlichkeitszoo“

Die Mathematik kennt größere und kleinere Arten von Unendlichkeit. Das ist schon schwierig zu begreifen, vielleicht noch schwieriger: Mit neuen Methoden kommen immer wieder neue Arten hinzu. Die Mathematikerin Vera Fischer versucht ein wenig Ordnung in den „Unendlichkeitszoo“ zu bringen. Ein Nebenprodukt dabei: So etwas wie künstliche Intelligenz könnte es womöglich gar nicht geben.

„Mathematische Sätze können schön sein wie Kunstwerke“, sagt Vera Fischer und hält dabei eines in der Hand: einen Kaleidozyklus – ein Objekt aus Karton, das aus zusammenhängenden Dreieckspyramiden besteht. Über die Kanten der Pyramiden kann man den Karton falten – und zwar in unendlicher Vielfalt. Auf den Pyramiden abgebildet sind rote, orange und weiße Tierfiguren, die ineinander übergehen – und bei jeder neuer Faltung neue Bilder erzeugen. „Man kann sagen: Das ist unendlich. Denn: Man weiß nicht, wo die Bilder anfangen und wo sie enden“, sagt Fischer.

Die Mathematikerin Vera Fischer hält einen Kaleidozyklus in der Hand
Lukas Wieselberg, ORF
Vera Fischer und Kaleidozyklus

Mathematikerin seit der Kindheit

Kaleidozyklen sind anschauliche Beispiele für das Spezialgebiet von Fischer – „die Unendlichkeit – der Kern der Mengenlehre“, wie sie es ausdrückt. „Unendlichkeit ist ein sehr wichtiger Begriff für die Wissenschaft, der sogar im Hintergrund von viele Anwendungen im Alltag steht, er ist aber auch sehr kompliziert. Und um mit ihm zu arbeiten, brauchen wir axiomatische Systeme und Logik.“

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Für Mathematik begeistert hat sich Fischer schon früh: Als Elfjährige gewann sie den bulgarischen Nationalwettbewerb für Mathematik und bekam so einen Platz in der Sofia-Spezialschule für mathematisch begabte Kinder. Heute ist die gebürtige Bulgarin Assistenzprofessorin am Kurt Gödel Research Center der Universität Wien, wo der Geist des aus Österreich von den Nazis in die USA vertriebenen Logikers noch immer weht: „Ich bin seit 2008 hier, und was mich von Beginn an beeindruckt hat, war die enorme Zahl von Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, die sich hier mit Logik beschäftigten – das ist nur sehr selten zu finden“, erzählt sie gegenüber science.ORF.at.

Abzählbare und überabzählbare Unendlichkeiten

Unendlichkeit kannte bereits die Mathematik im antiken Griechenland, die indische Religion des Jainismus entwickelte schon vor über 2.000 Jahren die Idee, dass es mehrere Typen von Unendlichkeiten gibt. Im heutigen Sinne hat sie der deutsche Mathematiker Georg Cantor Ende des 19. Jahrhunderts aufgegriffen. Die Grundidee: Auf der einen Seite gibt es Mengen mit unendlich vielen Elementen, die abzählbar sind – dazu zählen etwa die natürlichen Zahlen (1,2,3 …), die Primzahlen oder die rationalen Bruchzahlen wie 1/2 oder 3/4. Cantor konnte formal beweisen, dass all diese Mengen gleich groß sind – auch wenn das nicht intuitiv ist.

2017: Bundesminister Harald Mahrer überreicht den START-Preis an Vera Fischer und FWF-Präsident Klement Tockner gratuliert der Mathematikerin
FWF/Martin Lusser

Vera Fischer ist Assistenzprofessorin am Kurt Gödel Research Center der Uni Wien. 2017 hat sie einen START-Preis des Wissenschaftsfonds FWF erhalten (siehe Bild), 2018 den Förderungspreis der Österreichischen Mathematischen Gesellschaft.

Auf der anderen Seite gibt es Mengen, die noch größer oder „mächtiger“ sind – etwa die reellen Zahlen, zu denen auch irrationale Zahlen wie Pi oder die Wurzel aus Zwei gehören. Diese größeren Unendlichkeiten lassen sich nicht abzählen und heißen deshalb „überabzählbare“ Mengen. Cantor führte ein eigenes Klassifikationssystem für die Mächtigkeit von Mengen ein: die Kardinalzahlen. In Folge konnten immer größere und mächtigere Unendlichkeiten beschrieben werden.

Rechnen trotz Unvollständigkeit

Eine besondere Frage Cantors ist unter dem Titel Kontinuumshypothese in die Mathematikgeschichte eingegangen: Gibt es eine Unendlichkeit zwischen der unendlichen Menge der natürlichen Zahlen und jener der reellen Zahlen? Kurt Gödel hat später mit seinem berühmten Unvollständigkeitssatz gezeigt, dass es in der Mathematik immer Aussagen gibt, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen – und Cantors Kontinuumshypothese ist eine solche Aussage.

Das heißt aber nicht, dass die Mathematik in diesem Bereich nicht eine ganze Reihe von Unendlichkeiten definieren und ihre Beziehungen zueinander untersuchen kann. Das ist genau, was Vera Fischer macht. „Es gibt zum Beispiel verschiedene Eigenschaften der reellen Zahlen, die man als verschiedene Unendlichkeiten beschreiben und sie damit vergleichen kann.“ Auf diese Weise kann ein wenig Ordnung in den „Zahlenzoo der Unendlichkeit“ gebracht werden. Die Mathematiker Martin Goldstern und Jakob Kellner von der TU Wien haben etwa vor drei Jahren gezeigt, dass die zehn Unendlichkeiten, die im „Cichoń-Diagramm“ beschrieben werden, unterschiedlich groß sein können.

Ein Blick auf den „Unendlichkeitszoo“ – zwischen der ersten überabzählbaren Unendlichkeit der natürlichen Zahlen ganz unten und der jener der reellen Zahlen ganz oben. Dazwischen liegen einige Kardinalzahlen, die Eigenschaften reeller Zahlen entsprechen.
Thilo Weinert
Ein Blick auf den „Unendlichkeitszoo“ – zwischen der ersten überabzählbaren Unendlichkeit der natürlichen Zahlen ganz unten und der jener der reellen Zahlen ganz oben. Dazwischen liegen einige Kardinalzahlen, die Eigenschaften reeller Zahlen entsprechen.

Wachsende Artenvielfalt im „Unendlichkeitszoo“

Das ist aber noch lange nicht alles, betont Vera Fischer. „Die Eigenschaften des Cichoń-Diagramms stammen aus der Mengenlehre. Es gibt aber viele andere, die aus anderen Bereichen der Mathematik kommen, etwa Eigenschaften der reellen Zahlen aus der Algebra, die wir als bestimmte Unendlichkeiten beschreiben können.“ Aktuell sind im „Unendlichkeitszoo“ rund 20 verschiedene „Arten“ bekannt. Doch wird sich ihre Anzahl in Zukunft erhöhen, da ist sich Vera Fischer sicher.

Die Grundlage dafür ist schon in den 1960er Jahren vom US-Mathematiker Paul Cohen entwickelt worden: Seine Forcing-Technik ist eine Art Erweiterung der gängigen Grundannahmen der Mengenlehre (“ZFC-Axiome“). Bestimmte Sätze der Mengenlehre, die nach diesen Axiomen falsch sind, können gezwungen („force“) werden, wahr zu sein. So lassen sich neue Modelle der Mengenlehre mit anderen Eigenschaften konstruieren. Die Forcing-Technik wurde in den vergangenen Jahren verfeinert, sodass der „Unendlichkeitszoo“ laufend Nachwuchs erhalten hat.

Die Mathematikerin Vera Fischer schreibt auf einer Tafel
Lukas Wieselberg, ORF
Tafeln sind in der Mathematik Standardausrüstung – am Kurt Gödel Research Center auch in der Küche

Vielleicht kann es KI gar nicht geben

Fischers Metier ist die reine Mathematik, Fragen der Unendlichkeit können aber auch reale Folgen in der Alltagswelt haben. So wird etwa bei der Infinitesimalrechnung mit unendlich kleinen Zahlen gerechnet – diese Annäherung an die Zahl Null ist in vielen technischen Anwendungen nötig, wo es um höchste Präzision geht.

Aber noch eine Art Anwendung lässt sich aus dem Fachgebiet von Vera Fischer ableiten – wenn auch eine spekulative. Sie hat mit dem heuer heftig diskutierten Thema künstlicher Intelligenz zu tun. Ob ChatGPT und andere „generative“ KI-Bots tatsächlich kreativ im Sinne menschlicher Intelligenz sein können, ist zu bestreiten – und zwar auch mit Hilfe von Gödels Unvollständigkeitssatz.

Ein Schluss, den man aus diesem Satz ziehen kann, ist es nämlich, dass es immer Wahrheiten geben wird, die man mit einem formalen System, also etwa einem Computerprogramm, nicht beweisen kann – der menschliche Geist also in gewisser Weise unerschöpflich ist. Zugleich ist er aber auch beschränkt. „Unser Wissen über die Welt und über uns selbst ist nicht vollständig. Wir wissen etwa noch immer nicht, wie unser Gehirn genau funktioniert. Und deshalb ist es zu bezweifeln, dass wir mit unseren begrenzten Kenntnissen so etwas wie eine künstliche Intelligenz schaffen können“, sagt Vera Fischer. Das menschliche Hirn könnte grundsätzlich nicht imstande sein, sich selbst zu verstehen – und somit auch nicht in der Lage, sich selbst nachzubauen oder gar zu übertreffen.

Dieser Interpretation des Gödelsatzes wird in der KI-Forschung zwar auch widersprochen – und die jüngsten Erfolge scheinen dem rechtzugeben – Fischer tendiert aber dazu, dass sich die eigene menschliche Begrenztheit auch in der künstlichen Intelligenz widerspiegeln muss.