Eine der letzten Aufnahmen von Charles Darwin (Aufnahme ungefähr von 1878)
dpa/RICHARD MILNER ARCHIVE/A2800 epa Richard Milner / Handout
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Hindu-Nationalismus

Indien streicht Evolutionstheorie aus Lehrbüchern

Indien lässt Charles Darwins Evolutionstheorie, das Periodensystem und andere Säulen der Wissenschaftsgeschichte aus Lehrbüchern der zehnten Schulstufe entfernen. Das hat vor allem politisch-ideologische Gründe. Die Wissenschaftsgemeinde protestiert – bislang erfolglos.

Als Ende Mai bekannt wurde, dass in Zukunft Darwin und Pythagoras, das Periodensystem der Elemente oder auch die nachhaltige Bewirtschaftung der Natur in den Lehrplänen indischer Schulen keinen Platz mehr haben, ging ein Aufschrei durch die internationale Wissenschaftsgemeinde. Binnen kurzer Zeit hatten tausende Forschende und weitere Personen aus dem Wissenschaftsumfeld eine Protestnote unterzeichnet.

Der streitbare Biologe, Buchautor und Proponent der Skeptikerbewegung Richard Dawkins sprach auf Twitter von einem „tragischen Affront“ und „lächerlichen“ religiösen Motiven, der Evolutionsbiologie Amitabh Joshi konstatierte gleichentags im Fachblatt „Nature“: „In Indien nehmen immer mehr religiöse Gruppen eine anti-evolutionäre Haltung ein.“

Was auf den ersten Blick nicht unmittelbar einleuchtet. Denn der Gegensatz zwischen Schöpfungsberichten und Evolutionstheorie mag zwar bei den abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – ausgeprägt sein. Ein Konflikt, der bis heute nachwirkt, wie etwa die Wiedererstarkung des Kreationismus in den USA während der Amtsperiode von Donald Trump zeigt.

Doch der Hinduismus ist nicht unbedingt eine Religion, die bisher durch Probleme mit der Weltsicht des Darwinismus aufgefallen wäre. Eher im Gegenteil, befindet sich die gemeinsame Abstammung von Tier und Mensch doch durchaus im Einklang mit der Hindu-Tradition. Warum also die plötzliche Entfernung Darwins? Und warum all die anderen Streichungen von Pythagoras bis Faraday – wie passt das alles zusammen?

“Politische Gründe“

Die offizielle Begründung des indischen Rats für Bildungsforschung (NCERT) lautet, man wolle den Lehrplan an Schulen straffen und so für Entlastung sorgen. „Die Entscheidung hat in Wahrheit politische Gründe“, sagt der Südasienforscher und Indien-Kenner Martin Gaenszle von der Uni Wien. Konkret stehe hinter all dem die Hindutva-Ideologie, der Premier Narendra Modi und die Regierungspartei BJP anhängen.

Die Hindutva-Ideologie ist im Kern eine nationalistische Strömung, die Indien zu einem Hindu-Staat transformieren möchte. Praktisch sind diesem Ansinnen Grenzen gesetzt, denn Indien ist per Verfassung immer noch ein säkularer Staat – gleichwohl habe die BJP in den letzten Jahren einiges unternommen, die Ideologie schrittweise ins Staatsgefüge zu schleusen, erzählt Gaenszle im Ö1-Interview. „Nach allem, was der Partei und der Regierung möglich ist, versucht man hier Revisionen durchzusetzen.“

Indiens Premier Narendra Modi bei einem Staatsbesuch in Frankreich
LUDOVIC MARIN/AFP
Narendra Modis Programm der „vedischen Urwissenschaft“ treibt mitunter kuriose Blüten

Von Revisionen war in den letzten Jahren vor allem die Geschichtsschreibung betroffen. So wurde etwa versucht, die muslimischen Kulturbeiträge in Indiens Historie zu tilgen. Und nun sind eben Teile der Naturwissenschaften dran. In diesem Kontext ist etwa auch die Gründung des Ayush-Ministeriums im Jahr 2014 zu sehen, das Traditionen wie Ayurveda, Yoga und Naturheilkunde fördert und sozusagen als indische Urform der Wissenschaft darstellt.

Im Grunde sind also nicht allein Darwin oder die Evolution Dorn im Auge Modis und seiner Gefolgsleute, sondern vielmehr die Dominanz der Wissenschaft westlichen Zuschnitts an sich, der man nun ein lokales, von der Kolonialzeit losgelöstes Erbe entgegenstellen möchte.

Widersprüche treten auf

Diese Delegitimierung der westlichen Wissenschaften habe in den letzten Jahren einige Blüten getrieben, erzählt Gaenszle. Kurios sei etwa die Behauptung von Hindu-Ideologen, selbst die Anleitung zum Bau der Atombombe – über die Indien seit den 1990er Jahren verfügt – würde sich bereits in uralten vedischen Schriften finden. Hier sei ein „provinzieller Nationalismus“ im Gange, der mit aller Gewalt wissenschaftliche Einsichten auf das antike Indien zurückführen wolle, notierte kürzlich L.S. Subrahmanya, der Direktor des Tata-Forschungsinstituts in Bengaluru, Indien.

Ein Kontrastprogramm, das sich in letzter Konsequenz freilich nicht durchhalten lässt, zumal Indien sich gleichzeitig als Technologie-Großmacht zu positionieren versucht und Premier Modi auch großes Interesse daran hat, westliche Investoren ins Land zu holen. Und da man mit Ayurveda allein keine Sonden zum Mond schicken kann, werden die Naturwissenschaften inklusive Darwin an den Universitäten wohl weiterhin unterrichtet werden, zumindest gibt es derzeit keine Anzeichen für Eingriffe auf universitärer Ebene. Die Streichungen an den Schulen sind also vor allem symbolischer Art – und in ihrer thematischen Willkür wohl auch typisch für die Ideologisierung der indischen Wissenschaft. Oder, wie es Südasienforscher Gaenszle ausdrückt: Der Widerspruch ist hier Programm.

Die Hindutva-Bewegung hat übrigens auch Auswirkungen auf Österreich. Der Indische Rat für Kulturbeziehungen bietet jedes Jahr Gastprofessuren an der Uni Wien an. Doch die fachliche Qualität lasse zusehends zu wünschen übrig, stellt Gaenszle fest. Er habe den Eindruck, die Vortragenden würden nun vor allem nach „ideologischer Standfestigkeit“ ausgewählt – und nicht mehr nach wissenschaftlicher Expertise. „Wenn das so weitergeht, wird man sich die Frage stellen müssen: Wollen wir diese Leute auf unsere Studierenden loslassen?“