3D-Illustration (KI-generiert) Bakterien im menschlichen Darm
SciePro/stock.adobe.com
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Gesundheit

Die Mythen über das Darmmikrobiom

Rund um die Bakterien im menschlichen Darm ist in den vergangenen Jahren ein Hype entstanden. Zahlreiche Krankheiten wie Depressionen und Übergewicht werden etwa damit in Zusammenhang gebracht. Zwei Fachleute warnen nun: Zum Mikrobiom seien viele Mythen im Umlauf. „Dickmacherbakterien“ etwa gebe es nicht, und vieles sei noch unklar.

Die Liste der Krankheiten, die heute mit einem veränderten Darmmikrobiom in Zusammenhang gebracht wird, ist lang: Sie reicht von Diabetes, Übergewicht und entzündlichen Darmerkrankungen über Multiple Sklerose, Parkinson, Alzheimer und Depressionen bis zu Asthma und Leberleiden. Eine geringere Bakterienvielfalt sowie Dysbalancen im Darm könnten Auslöser sein. Zudem gehen diese Krankheiten oft mit lokalen und systemischen Entzündungen einher, was die Mikroorganismen zusätzlich schwächen könnte.

Die Zusammensetzung der Bakterien wird aber durch sehr viele Faktoren beeinflusst, etwa durch die Ernährung, Medikamente und das Alter. Das mache es besonders schwer, Ursache und Wirkung zu unterscheiden, erklären Alan W. Walker von der University of Aberdeen und Lesley Hoyles von der Nottingham Trent University in einem Kommentar im Fachmagazin „Nature Microbiology“. Die allermeisten Arbeiten zum Thema beruhen nur auf Korrelationen.

Vermeintliche Fakten

Dennoch habe die Hoffnung auf einfache Erklärungen für viele Symptome und im besten Fall Behandlungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen regelrechten mikrobiologischen Forschungsboom ausgelöst. Und dabei seien viele Ideen in Umlauf geraten, die nicht durch Evidenz, sondern durch ständige Wiederholung zu vermeintlichen Fakten wurden. Einige davon könnten echten Fortschritt in dem Bereich sogar behindern.

Um dem entgegenzuwirken, haben Walker und Hoyles in ihrem Kommentar nun ein paar der gängigen Mythen und Fehlannahmen aufgelistet. Wie sie betonen, könnte manches davon spitzfindig bzw. belanglos wirken, aber gerade Genauigkeit bei Kleinigkeiten und Grundlagen sei entscheidend für die Glaubwürdigkeit des gesamten Forschungsbereichs.

Falsche Zahlen und Fakten

Zu den Mythen zähle etwa die Behauptung, dass es sich um ein sehr neues Forschungsfeld handelt. Dabei wurden die ersten Darmbakterien schon Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben – etwa Escherichia coli – und schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts tauchte das erste Mal die Idee von nützlichen Mikroorganismen auf. Auch Wechselwirkungen zwischen Hirn und Darm (auch als Darm-Hirn-Achse bekannt, Anm.) kenne man seit 40 Jahren. Selbst der Begriff Mikrobiom wurde nicht erst vom Nobelpreisträger Joshua Lederberg 2001 geprägt, wie man vielerorts im Internet fälschlicherweise nachlesen kann.

Was die Menge an Darmbakterien betrifft, kursieren laut Walker und Hoyles ebenfalls einige Falschannahmen, unter anderem könne man oft lesen, dass das Mikrobiom eines Menschen ein bis zwei Kilogramm wiegt, in Wahrheit sind es vermutlich knapp 500 Gramm. Außerdem gebe es im menschlichen Körper nicht zehnmal so viele Mikroorganismen wie Zellen. Das Verhältnis betrage vermutlich eher 1:1, was immer noch erstaunlich sei.

Auch was die Erblichkeit des Mikrobioms betrifft, werden oft Halbwahrheiten kolportiert: Zwar werden manche Bakterien tatsächlich während der Geburt auf das Baby übertragen. Alles andere aber passiere danach. Jeder Erwachsene besitze eine einzigartige mikrobielle Besiedelung, sogar Zwillinge unterscheiden sich in dieser Hinsicht voneinander.

Pathobiom gibt es nicht

Neben diesen eher harmlosen Mythen benennen die zwei Fachleute auch solche, die aus ihrer Sicht der Forschungsarbeit wirklich schaden könnten. Einer davon besage, dass zahlreiche Krankheiten durch ein bestimmtes Pathobiom charakterisiert werden, also durch eine schädliche Wechselwirkung mancher Bakterien und seinem Wirt. Das sei extrem vereinfachend. An sich seien Mikroorganismen weder gut noch schlecht. Es hänge in der Regel von den Umständen ab, ob sie schädlich oder harmlos sind. Es sei zwar höchstwahrscheinlich, dass die Zusammensetzung der Bakteriengemeinschaft bei vielen Krankheiten eine Rolle spielt. Aber pathologische Veränderungen sind nicht konsistent und das individuelle Mikrobiom eben sehr unterschiedlich, sowohl bei Kranken als auch bei Gesunden.

Als Beispiel für eine solche vermeintlich krankmachende mikrobiotische Dysbalance nennen der Forscher und die Forscherin das Verhältnis von Firmicutes (Bacillota) zu Bacteroidetes im Darm. Vielfach werde immer noch behauptet, dass erstere bei Übergewicht in der Überzahl sind, obwohl es für diesen ursprünglich bei Ratten entdeckten Zusammenhang keine gesicherten wissenschaftlichen Belege gibt.

Methodische Probleme

Letztendlich kritisieren Walker und Hoyles noch einige methodische Ansätze und Annahmen. Unter anderem halten sie den Ruf nach komplett standardisierten Methoden für fragwürdig. Vergleiche verschiedener Untersuchungen zum Mikrobiom zeigen, dass jede Vorgangsweise zu bestimmten Verzerrungen führen kann. Wenn alle Forscherinnen und Forscher nach demselben Protokoll – etwa ausschließlich mit genetischer Sequenzierung – arbeiten, mache das blind für solche Tendenzen.

Laut Walker und Hoyles sollte die Forschungsgemeinschaft etwa wieder häufiger mit Laborkulturen arbeiten. Denn die Annahme, dass sich menschliche Bakterien kaum kultivieren lassen, sei ebenfalls ein weit verbreiteter Mythos. Das sei zwar arbeitsintensiv, teuer und genauso wenig frei von einem gewissen Bias. Aber mit Experimenten in der Petrischale ließen sich manche genetischen Erkenntnisse faktisch überprüfen und neue Therapien besser testen.

Abschließend betonen Walker und Hoyles, dass sie mit ihren Beispielen darauf aufmerksam machen wollen, wie leicht Halbwissen und Vereinfachungen ihren Weg in die wissenschaftliche Literatur finden. Das schade dem ganzen Forschungsbereich. Sie plädieren für einen differenzierteren Zugang, wenn es um das komplexe menschliche Mikrobiom geht.