Rettungsaktion von Ärzte ohne Grenzen vor libyscher Küste
AFP/VIRGINIE NGUYEN HOANG
AFP/VIRGINIE NGUYEN HOANG
Migration

Seenotrettungen kein Auslöser für Flucht

Seenotrettungen im Mittelmeer sind in der Vergangenheit wiederholt als „Pull-Faktor“ kritisiert worden. Der Vorwurf, sie würden Menschen erst animieren, sich auf den lebensgefährlichen Weg zu machen, ist laut einer neuen Studie jedoch nicht haltbar. Diese untersuchte, welche Umstände Fluchtbewegungen zwischen 2011 und 2020 beeinflussten.

Der Weg über das Mittelmeer gehört zu den beliebtesten und gleichzeitig zu den gefährlichsten Fluchtrouten in Richtung Europa. Viele Menschen bezahlen die Überfahrt in ungeeigneten und oft viel zu kleinen Booten mit ihrem Leben. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres waren es schon mehr als 1.800 Tote, darunter viele Minderjährige. Einige Migranten und Migrantinnen überleben nur, weil sie von staatlichen und privaten Rettungsbooten vor dem Ertrinken bewahrt werden.

In der europäischen Migrationsdebatte sind diese Seenotrettungen von Flüchtlingen sehr umstritten. Manche meinen, sie motivieren Menschen erst, sich auf den gefährlichen Weg über das offene Meer zu begeben. Außerdem helfe die Hoffnung auf eine Rettung durch Dritte auch Schleppern, da sie bei ihren Operationen noch sparsamer vorgehen, was die Überfahrt für die Migranten letztendlich noch gefährlicher macht.

Laut den Kritikern zählen Seenotrettungen daher zu den „Pull-Faktoren“, wie es etwa auch die Aussicht auf bessere wirtschaftliche Bedingungen und Sicherheit im Zielland sein sollen – im Gegensatz zu „Push-Faktoren“, die Menschen aus ihrem Heimatland vertreiben, wie z. B. Konflikte, Armut und Naturkatastrophen.

Zehn Jahre Flüchtlingsroute

Wie die Forscher und Forscherinnen um Alejandra Rodríguez Sánchez von der Universität Potsdam im Fachmagazin „Scientific Reports“ schreiben, gebe es bisher aber kaum empirische Belege dafür, dass Seenotrettungen eine zusätzliche Motivation für eine Flucht sein können. Für die aktuelle Studie hat das Team nun Daten rund um die Flucht über das Mittelmeer von 2011 bis 2020 analysiert: die Anzahl der Fluchtversuche sowie der zurückgewiesenen Boote und die erfassten Todesfälle. Die Zahlen stammten unter anderem von der europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache (Frontex), der tunesischen sowie libyschen Küstenwache und der International Organisation for Migration (IOM).

Flüchtlinge mit Rettungsringe aus Afrika in einem Boot, aufgegriffen vor der tunesischen Küste
AFP/ FETHI BELAID
Zu viele Menschen in einem kleinen und unzulänglichen Boot, aufgegriffen von der tunesischen Küstenwache

Der gesamte Zeitraum wurde für die Analyse in drei Abschnitte unterteilt: Von 2013 bis 2014 lief die offizielle Marineoperation Mare Nostrum zur Seenotrettung von Flüchtlingen sowie zur gezielten Fahndung nach Schleppern. Anschließend kümmerten sich private Rettungsmissionen von NGOs um die Rettung von in Seenot geratenen Migranten und Migrantinnen. In der dritten Periode – ab 2017 – dehnte die libysche Küstenwache die Kontrolle vor dem afrikanischen Kontinent aus. Seit damals nahm die Zahl der koordinierten „Pushbacks“ zu. Diese Maßnahmen gelten auch als Abschreckung für Flüchtlinge schon außerhalb der Grenzen Europas.

Anschließend berechnete das Team, welche Faktoren mit den erfassten Fluchtbewegungen korrelieren: Neben den Seenotrettungen wurden dabei unter anderem Währungskurse, internationale Wohnungspreise, Arbeitslosigkeit, Konflikte, der Flugverkehr zwischen den Kontinenten und Naturkatastrophen erfasst. Es zeigte sich, dass die Zahl der Fluchtversuche weder durch staatliche noch private Rettungsaktionen zunahm.

Migrationsdynamik ist komplex

Eine gewisse Fluchtmotivation dürfte laut der Analyse mit einer Zunahme von Konflikten in den Heimatländern, Wohnungspreisen, Naturkatastrophen, dem Wetter und dem Flugverkehr zusammenhängen. Nach der vermehrten Intervention durch die libysche Küstenwache seien die Fluchtversuche hingegen weniger geworden. Wie die Forscher und Forscherinnen warnen, gehe dies jedoch mit einer Zunahme an Menschenrechtsverletzungen durch die libysche Küstenwache und in libyschen Lagern einher.

Insgesamt zeige die Analyse, dass ökonomische sowie ökologische Umstände und Konflikte für die Flucht eine wichtige Rolle spielen, anders als die Aussicht auf eine mögliche Rettung aus der Seenot. Durch die Rettungen sinke hingegen die Zahl der Toten und deswegen kommen relativ zu den Fluchtversuchen mehr Menschen heil in Europa an. Wie Sánchez in einem Pressbriefing zur Studie erklärt, sei für eine Flucht generell nicht ein einziger Faktor entscheidend.

Die Erzählung rund um maßgebliche auslösende „Pull-Faktoren“, wie etwa Seenotrettungen, seien übermäßig vereinfachend und basieren auf einer mechanistischen Vorstellung von Flucht. Das entmenschliche Flüchtlinge und kriminalisiere die Retter. Auch Koautor Stefano Iacus von der Harvard University unterstreicht: „Die Dynamik von Migration ist sehr komplex.“ Die Forscherinnen und Forscherinnen plädieren daher für mehr Forschung, damit politische Handlungen in Zukunft auf mehr empirischer Evidenz basieren.