Wildschwein, Tier, Wald
WildMedia – stock.adobe.com
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Radioaktive Strahlung

„Wildschwein-Paradoxon“ gelöst

Seit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl wird bei Wildtierfleisch großer Wert auf Lebensmittelsicherheit gelegt. Anders als Rehe und Hirsche können Wildschweine im Alpenraum aber nach wie vor strahlenbelastet sein. Eine neue Studie der Technischen Universität (TU) Wien konnte dieses „Wildschwein-Paradoxon“ nun aufklären.

Im April 1986 ereignete sich der katastrophale Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl. Nach der Explosion trieb Ostwind eine radioaktive Wolke Richtung Alpenraum. Dort gelangte etwa das radioaktive Isotop Cäsium-137 in die Umwelt. Über einige Jahre hinweg war die Cäsium-Belastung bei Waldpilzen und Wildtieren wie Hasen, Rehen, Hirschen und Wildschweinen hoch. Dann zeigte sich ein erwartetes Absinken der Belastung – nur bei Wildschweinen nicht.

Bei Wildschweinen im Alpenraum blieb die Cäsium-Belastung paradoxerweise konstant hoch, sagt der Radiochemiker Georg Steinhauser von der TU Wien. Denn Cäsium-137 hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren, das heißt, nach 30 Jahren ist nur mehr die Hälfte der ursprünglichen Menge vorhanden und der Rest zerfallen. Bei der radioaktiven Belastung der Wildschweine sehe man diesen Rückgang jedoch nicht, so Steinhauser. Die Ursache dieses „Wildschwein-Paradoxons“ hat er nun in einer Studie ermittelt, die soeben in der Fachzeitschrift „Environmental Science & Technology“ erschienen ist.

Atomwaffentests der 1950er und 1960er Jahre als Ursache

Also untersuchten Steinhauser und sein Team nun das Verhältnis der Cäsium Isotope 135 zu 137 in den Wildschweinen und ermittelten so eine Art radioaktiven Fingerabdruck, der Auskunft über die Quelle des Cäsiums gibt. Cäsium-135 ist schwer zu messen, weil es wenig strahlt und eine Halbwertszeit von 2,3 Millionen Jahren hat. „Diese Analysen haben uns gezeigt, dass die bayrischen Wildschweine, die wir untersucht haben, nicht wegen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl so eine hohe Belastung aufweisen“, sagt Steinhauser gegenüber science.ORF.at.

Das Verhältnis der beiden Cäsium-Isotope zeigt, dass die Quelle der radioaktiven Belastung die Atomwaffentests der 1950er und 1960er Jahre sind. Das Atomwaffencäsium spiele in Europa heute so gut wie keine Rolle mehr, es mache nur zehn Prozent der Cäsiumbelastung in der Umwelt aus, so Steinhauser. Bis zu 90 Prozent stammten von der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl. Bei den Wildschweinen waren jedoch bis zu 50 Prozent, bei manchen Tieren sogar 70 Prozent des Cäsiums Überreste der Atomwaffentests.

Das radioaktive Cäsium wandert in den sauren Waldböden langsam nach unten und kontaminiert dort Wildschweinfutter wie Hirschtrüffel. Die liegen etwa 40 Zentimeter unter der Oberfläche. Das Tschernobyl-Cäsium sei in diesen Bodenschichten noch nicht angekommen, so Steinhauser. Zu einer Belastung bei Wildschweinen werde es also noch einige Jahrzehnte kommen. Gefahr für den Menschen gebe es keine, betont der Radiochemiker.

Fleisch wird nicht gegessen

Der Grenzwert für Lebensmittel liegt bei 600 Becquerel pro Kilogramm Fleisch. Die Wildschweine liegen klar darüber, bei bis zu 30.000 Becquerel pro Kilogramm. Alle Tiere, die von Jägerinnen und Jägern geschossen werden, werden auch auf eine radioaktive Belastung hin überprüft. Ist diese zu hoch, wird das Fleisch nicht für den Verzehr freigegeben. „Dass Wildschweine die mit Cäsium belasteten Hirschtrüffel essen, dürfte auch ein saisonales Phänomen sein“, so Steinhauser. Gibt es ausreichend Eicheln oder Bucheckern, fangen die Tiere nicht zu graben an.

Die Studie weise abermals auf die Langzeitfolgen von Atomwaffentests und nuklearen Katastrophen hin, so der Radiochemiker, und illustriere, wie lange radioaktive Isotope in der Umwelt verbleiben können. In einer Folgestudie wollen Steinhauser und sein Team nun eine genaue Prognose erstellen, wie lange mit einer Cäsium-137-Belastung in den Erdschichten unter der Oberfläche in Wäldern des Alpenraums zu rechnen ist. „Wir haben unsere Messungen an Wildschweinen aus Bayern vorgenommen, aber die Situation in den benachbarten Bundesländern Salzburg und Oberösterreich ist sehr ähnlich.“