Drei Mitarbeiterinnen in einem Labor
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Wissenschaftsskepsis

„Sollten nicht in Diskurs der Lagerbildung verfallen“

Kritik, Skepsis und Desinteresse an Wissenschaft – das hat jüngst eine neue Studie Teilen der österreichischen Bevölkerung attestiert. Aber woher kommt diese Haltung? Auf der Suche nach den historischen Wurzeln geht Studienkoautor Erich Griessler bis in die Gegenreformation zurück. Für die Gegenwart plädiert er dafür, Gruppen nicht gegeneinander zu stellen.

science.ORF.at: In der kürzlich zur Wissenschaftsskepsis in Österreich präsentierten Studie ist von einem ambivalenten historischen Erbe die Rede. Worin manifestiert sich das?

Erich Griessler: Wenn man von einem historischen Erbe spricht, dann muss man sich die Fragen stellen: Worauf bezieht sich das bei so etwas Schwammigem wie Wissenschaftsskepsis? Was ist das Medium, in dem so ein Erbe transportiert wird? Ich denke, auf der einen Seite muss man sich da die Institutionen anschauen, also zum Beispiel wie Politik gemacht wird, welche Rolle die Bevölkerung in der Politik spielt, welches Verständnis die Wissenschaft von sich selbst und von der Bevölkerung hat. Auf der anderen Seite haben wir so etwas wie ein Rollenverständnis: Was muss ich als Wissenschaftler, als Wissenschaftlerin tun? Was ist meine Rolle als Bürger, als Bürgerin? Und das dritte sind die Medien, in denen das transportiert wird: Warum sind die Österreicher und Österreicherinnen so oder so? Wo lagert sich das ab? Damit beschäftigt sich die Tradition der Mentalitätsgeschichte, die unter anderem auf Norbert Elias zurückgeht.

IHS-Studie

Ende August ist eine Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS) zur Wissenschaftsskepsis erschienen, Erich Griessler ist einer der Autoren. Ihr zufolge ist die Mehrheit Wissenschaft und Demokratie gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt. Bei Teilen der Bevölkerung herrschen allerdings Kritik, Skepsis und Desinteresse an Wissenschaft.

Was sagt uns diese Mentalitätsgeschichte Österreichs zur aktuellen Wissenschaftsskepsis?

Griessler: Ein wichtiger Punkt ist die Gegenreformation. Österreich war damals ein völlig anderes Staatengebilde. Ein Großteil der Bevölkerung und des Adels war protestantisch, das Herrscherhaus der Habsburger aber katholisch. Und zu Beginn des 30-jährigen Krieges und in der Epoche der Gegenreformation ging es darum, diese protestantische Bevölkerung wieder katholisch zu machen. Wir haben diesen Ausdruck noch immer „dich werde ich schon noch katholisch machen“ – und das war verbunden mit Repression vonseiten des Herrscherhauses gegen die protestantische Bevölkerung und den protestantischen Adel. Im Unterschied zum Protestantismus, dem das Lesen wichtig war, ist es dem Katholizismus nicht um Lesen und Emanzipation gegangen, sondern um Gehorsam und Unterordnung. Und das war ein ganz wichtiger Punkt auch für die Entwicklung von Wissenschaft. Bei der Gründung der Universität Graz etwa ging es nicht darum, Wissenschaft zu fördern, sondern um die Ausbildung von adeligem Verwaltungspersonal, auf das sich der Kaiser verlassen kann.

Nach der Zeit der Gegenreformation: Welche Ereignisse waren zentral dafür, wie das Verständnis von Wissenschaft in Österreich entwickelt hat?

Griessler: Ein wichtiger Punkt war der aufgeklärte Absolutismus. In Wien gibt es Gebäude wie zum Beispiel das alte AKH, das Josephinum oder die jetzige Diplomatische Akademie – allesamt Einrichtungen, die Wissenschaft gefördert haben, aber die einem bestimmten Zweck gedient haben. Im aufgeklärten Absolutismus sieht man in der Wissenschaft etwas Praktisches und Gutes, aber sie dient einem bestimmten Zweck; das Josephinum etwa dazu, Militärärzte auszubilden. Das war notwendig, um im europäischen Kräftegleichgewicht bestehen zu können. All die Reformen dieser Zeit, auch die allgemeine Schulpflicht, die ja etwas Positives hat, dienen dazu, nützliche Untertanen zu entwickeln. Das hat also keinen emanzipatorischen Charakter und dient nicht dem Individuum, sondern dem Staat, dem Herrscher und der Herrscherin.

Das heißt die Wissenschaft war immer ein Instrument der Herrscher, um etwas Spezielles umzusetzen oder ein gewisses Ziel zu erreichen?

Griessler: Wissenschaft hat immer auch eine bestimmte wirtschaftliche und politische Funktion. Und das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft hat sich historisch geändert. Wenn man an den Beginn von Wissenschaft im 16., 17. Jahrhundert denkt: Da war das die Angelegenheit von ein paar sehr noblen Gentlemen, die Versuche miteinander durchführten, sich austauschten, korrespondierten. Das hatte noch sehr wenig mit der Gesellschaft zu tun. Im aufgeklärten Absolutismus kommt ihr Wissenschaft schon ein bisschen näher. Da vergibt man dann auch Patente und dergleichen mehr. Heute leben wir leben in einer Gesellschaft, wo Wissenschaft und Gesellschaft sehr eng miteinander verwoben sind und das spielerische Interesse an Wissenschaft nur mehr eine ganz kleine Rolle spielt. Es geht heute um Drittmittelforschung, um wirtschaftliche oder politische Anwendbarkeit. Wissenschaft ist nicht mehr ein Wert an sich, sondern etwas, das nützlich sein soll. Daran entzündet sich natürlich Kritik.

Zusammenfassend gefragt: Welche Eckpunkte würden Sie als Historiker bei der Entwicklung des Wissenschaftsverständnisses in Österreich festmachen?

Griessler: Wie gesagt: Die Gegenreformation spielt eine zentrale Rolle in Österreich. Der aufgeklärte Absolutismus spielt eine Rolle; dann die Blüte der Wissenschaft im 19. Jahrhundert bis nach dem Ersten Weltkrieg. Dann war die Radikalisierung in der österreichischen Innenpolitik wichtig, die Vertreibung von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, die Vertreibung und Ermordung von Jüdinnen und Juden. Es kam das große Schweigen in der Zweiten Republik bis ungefähr nach der Waldheim-Affäre inklusive Provinzialisierung der österreichischen Wissenschaft. Aber es spielen sicherlich auch die Produktionsbedingungen von Wissenschaft und das Selbstverständnis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine Rolle, die sehr wenig Platz lassen für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Das ist eine Aufgabe, die nicht honoriert wird.

Besonders stark ausgeprägt ist in Österreich Technikskepsis. Da gab es nach dem Zweiten Weltkrieg einige prägende Erlebnisse – Stichworte Zwentendorf und Gentechnik. Diese Skepsis kann man auch sehr positiv bewerten, etwa dass Österreich nie den Weg in Richtung Atomenergie eingeschlagen hat. Wie ist denn diese Bewegung in der österreichischen Gesellschaft zu bewerten? Gibt es da historische Wurzeln?

Griessler: Eine Wurzel ist sicherlich der Naturschutz. Da gibt es eine Traditionslinie, die auch teilweise mit dem Nationalsozialismus verknüpft ist im Sinn einer Bewahrung der reinen Natur. Dann gab es die Kernkraftbewegung, das ist eine ganz andere Strömung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, genau hinzuschauen. Bei der Technologie steht man in Österreich der Atomkraft und der Gentechnik sehr skeptisch gegenüber – aber es ist immer die grüne Gentechnik. Es gibt also keine allgemeine Technikskepsis in Österreich, sondern bestimmte Bereiche, wo diese Haltung sehr ausgeprägt ist.

Würden Sie sagen, dass sich im Verhältnis der Österreicher und Österreicherinnen zur Wissenschaft jetzt durch die Pandemie etwas verändert hat?

Griessler: Es hat sich sicher etwas verändert. Erstens ist die Wissenschaft wesentlich stärker sichtbar geworden. Zweitens ist sie stärker als beratendes Gremium für Politik aufgetreten. Und das wird ja in Österreich sehr wenig diskutiert. Was bedeutet es, wenn Wissenschaft Politik berät? Wie wird da ausgewählt, wie fließt sie letztlich in Entscheidungen ein? Es ist also auf einmal der Vorhang von der Bühne weggezogen worden und man hat etwas gesehen. Und wie es in Österreich oft der Fall ist: Man diskutiert nicht, was man gesehen hat, sondern das, was man nicht sehen möchte.

Ist das etwas spezifisch Österreichisches?

Griessler: In Österreich ist alles sehr in Einflusssphären aufgeteilt. Es gibt kaum eine öffentliche Debatte darüber, was Wissenschaft in der Gesellschaft leisten soll oder wie Wissenschaft in die Politik integriert werden soll. Wir haben Beratungsgremien, aber es ist sehr intransparent, wie diese besetzt werden und welche Entscheidungsbefugnisse sie haben. Es gibt Nominierungsrechte für bestimmte Institutionen, aber niemand weiß, wie diese Nominierungsrechte wahrgenommen werden. Das ist in Österreich hochgradig intransparent und kann auch Wissenschaftsskepsis befördern.

Sie haben die Geschichte sehr genau untersucht: Gab es Einrichtungen oder Ideen in der Geschichte, von denen Sie sagen, das sollte man heute wieder verstärken? Der Studie entnehme ich die Idee der Volkshochschulen, die Sie sehr positiv hervorheben. Gibt es darüber hinaus noch Dinge, die man lernen könnte?

Griessler: Die Volkshochschulen sehen es als Aufgabe der Wissenschaft, hineinzugehen in die Gesellschaft, sich zu erklären, aber auch zu hören, was denn die Themen in der Bevölkerung sind. Dazu gibt es die bekannten Ansätze wie Citizen Science. Allerdings muss man auch sagen, es reicht nicht nur der gute Wille, sondern man muss es auch finanzieren, honorieren und man muss es auch fördern. Die Wissenschaft ist ein beinharter Konkurrenzkampf zwischen jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in prekären Arbeitsverhältnissen stehen und sich in sehr kurzer Zeit beweisen müssen. Und dann ist die Frage: Habe ich die Zeit dafür, mit der Öffentlichkeit in einen Dialog zu treten?

Ist dieses Hineingehen in die Gesellschaft der Weg, um die Skeptikerinnen und Skeptiker zu erreichen??

Griessler: Mir ist an der Debatte zu Wissenschaftsskepsis sehr wichtig, dass man sich nicht hinstellt und sagt: „Hier sind wir und dort sind die Wissenschaftsskeptiker. Und wir müssen ihnen die Wissenschaftsskepsis austreiben.“ Stattdessen sollte man schauen, wo die Kritikpunkte liegen. Wir haben in den Fokusgruppen zur Studie oft gemerkt, dass sich die Kritik häufig nicht an der Wissenschaft selbst entzündet – die Wissenschaft zweifeln die wenigsten an. Sondern worum es geht, ist die Verwendung von Wissenschaft in Politik und Wirtschaft. Natürlich wird es auch Personen geben, die man nicht abholen kann. Aber wir sollten nicht in diesen Diskurs der Lagerbildung verfallen. Das ist etwas, das wir hoffentlich aus der Pandemie gelernt haben.

Und Transparenz könnte wiederum dabei helfen, das Verhältnis von Wissenschaft zu Politik und Wirtschaft zu beleuchten … ?

Griessler: Ja, unbedingte Transparenz. Wenn Expertise von der Politik gebraucht wird, sollte der Auftrag ausgeschrieben werden. Die Gründe, warum jemand mit einer Studie beauftragt wird, sollten klar und jederzeit von jedem und jeder einsehbar sein und die Ergebnisse natürlich veröffentlicht werden.