Steinböcke im Nationalpark Hohe Tauern
Jens Lang, ORF
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Hohe Tauern

Auch Steinböcke leiden unter Klimaerwärmung

Die meisten Forscherinnen und Forscher hoffen noch, dass das 1,5-Grad-Klimaziel erreicht wird. Aber die Klimaerwärmung hat schon jetzt massive Auswirkungen auf Umwelt – auch in Österreich. In den Hohen Tauern etwa wird es dem Alpensteinbock langsam zu warm, die höheren Temperaturen begünstigen Krankheitserreger.

Es gibt möglicherweise größere Highlights im Leben eines Wissenschaftlers, als das Sammeln von Exkrementen. Für Gunther Gressmann und Johannes Huber gehört es aber dazu. Es ist ein kühler Donnerstagmorgen. Tiefe Wolken hängen über der Pasterze, Österreichs größtem Gletscher – oder dem, was davon übrig ist. Alleine im vergangenen Jahr hat das Eis sich um 87 Meter zurückgezogen. Der Rückgang lässt sich von einem Jahr zum nächsten mit bloßem Auge sehen. Die kühlen Temperaturen täuschen. Der Klimawandel ist auch im Hochgebirge angekommen.

Sendungshinweise

Mehr über die Zukunft der Gletschergebiete in Zeiten des Klimawandels im Ö1 Mittagsjournal (29.9.) und in „Mayrs Magazin“ (29.9., 18.30 Uhr auf ORF2).

Wildbiologe Gressmann und Wildtiermanager Huber erforschen die Veränderungen, die das im Nationalpark Hohe Tauern mit sich bringt. Heute sammeln sie kleine Kügelchen ein: die tierischen Hinterlassenschaften von Steinwild. Eine non-invasive Methode der Forschung. Von ihr bekommen die Tiere überhaupt nichts mit. Die Untersuchung der Proben im Labor erzählt dennoch viel. Wie die Tiere leben, was sie fressen. Und unter welchen Krankheiten sie leiden.

Gunther Gressmann (li.) und Johannes Huber
Jens Lang, ORF
Gunther Gressmann (li.) und Johannes Huber

Krankheiten, die vor zehn oder fünfzehn Jahren noch kein oder zumindest kaum ein Thema waren. So gab es zuletzt häufig Ausbrüche der Räude, einer sehr ansteckenden Milbenerkrankung, die zu massivem Juckreiz bei den Tieren führt. Das Fell fällt aus, die Tiere kratzen sich so lange, bis die Haut blutig wird und sie letztlich an Schwäche oder Infektionen sterben.

Wärme begünstigt die Räude

„Die Räude ist eine Faktorenkrankheit“, sagt Gunther Gressmann, „viele Tiere tragen die Erkrankung in sich, aber nur, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen, bricht sie aus“. Der Klimawandel ist solch ein Faktor, weil er die Tiere unter Hitzestress setzt. Der Alpensteinbock etwa mag es am liebsten kühl. Richtig kalt wird ihm erst bei 20 Grad unter Null. Bei Plus zwölf Grad Celsius ist das Ende der Fahnenstange für ihn erreicht. „Zwölf Grad haben wir hier mittlerweile ständig“, sagt Gressmann. Das schwächt die Abwehrkräfte der Tiere, sie gehen erst nachts auf Nahrungssuche, wenn es etwas kühler ist, und bringen sich damit um den Schlaf. Das begünstigt dann die Ausbrüche der Räude, so erklärt man sich die Häufung der Krankheitswellen in den vergangenen Jahren.

Viele Pflanzen- und Tierarten haben sich aufs hochalpine Gelände spezialisiert. Sie können dort, im Gegensatz zu anderen Arten, überleben – das Ergebnis einer Anpassung über zigtausende von Jahren. Wenn es zu warm wird, wandern sie weiter hinauf. Bis es nicht mehr weiter hinaufgeht. „Die Tiere verbrauchen damit auch viel mehr Energie“, sagt Gunther Gressmann, „am Tag steigen sie hinauf in kühlere Zonen, am Abend wieder hinunter, um zu fressen. Das ständige Auf und Ab zehrt."

Steinböcke im Nationalpark Hohe Tauern
Jens Lang, ORF
Steinböcke im Nationalpark Hohe Tauern

Es gibt Studien, die zeigen, dass sich dadurch auch die Qualität der Gräser und Kräuter, die die Tiere fressen, ändert. Weil sie mehr Zeit haben, um zu wachsen, verändert sich der Nährstoffgehalt. Die Qualität der Futterpflanzen verschlechtert sich. Auch das kann mittelfristig einen Einfluss auf ganze Tierpopulationen haben.

„Inzucht-Depression“ der Steinböcke

Jetzt müssten sich die Arten im Hochgebirge wieder anpassen. Das ist für viele unmöglich. Der Steinbock ist dafür ein gutes Beispiel. Die Art war in Europa schon einmal fast ausgestorben. Vor rund 100 Jahren wurden sie wieder angesiedelt und streng geschützt. Heute leben wieder rund 1.100 Tiere in den Hohen Tauern. Aber weil die gesamte Population von gerade einmal 100 verbliebenen Tieren abstammt, sind alle extrem nah miteinander verwandt.

Die Forschung spricht von „Inzucht-Depression“. Für eine Anpassung bräuchte es einen viel größeren Genpool. Nur aus unterschiedlichen genetischen Merkmalen könnten sich die am besten passenden durchsetzen – survival of the fittest. „Die Genetik sagt, dass es ungefähr 10.000 unterschiedliche Tiere bräuchte, damit eine Anpassung an die neuen Verhältnisse möglich ist“, sagt Gressmann; also zehn Mal so viele, wie in den Hohen Tauern leben. Und Anpassung an neue Verhältnisse benötigt auch Zeit. Zeit, die die Natur jetzt nicht hat, weil die Veränderungen so rasend schnell gehen.

Borkenkäfer – zweifelhafte Profiteure

Zu den Profiteuren des Klimawandels werden daher in erster Linie jene Arten zählen, die kurze Reproduktionszeiten haben. Denn auch das vergrößert letztlich die genetische Vielfalt. Säugetiere zählen nicht zu ihnen. Die Gewinner werden Insekten sein, etwa die Borkenkäfer, die es ohnehin gerne kuschelig warm mögen. Sie können in jedem Jahr mehrere Generationen hervorbringen, die mit Veränderungen auch gut zurechtkommen. Und sie bringen neue Krankheiten mit sich, wie etwa die Gamsblindheit, die durch ein Bakterium ausgelöst wird, das von fliegenden Insekten übertragen wird.

Die Zukunft der Gletschergebiete

Es ist die Schlüsselfrage für die Zukunft der Bergriesen in Österreichs Alpen: Wie geht man mit den Gletschergebieten um? Trotz drängender Appelle der Wissenschaft, die Berge zu schützen, werden die Gletscher nach wie vor intensiv für den Skitourismus genutzt und auch ausgebaut. Ein Situationsbericht aus Tirol.

Hat sechstes Artensterben schon begonnen?

In der Natur hängt alles irgendwie mit allem zusammen. Die Nahrungsketten und die Wechselwirkungen sind noch weitgehend unerforscht. Das Aussterben einer Art ermöglicht das Vordringen einer anderen. Es gibt eine These, die besagt, dass es einen Zeitpunkt in ferner – oder naher – Zukunft gibt, an dem die Effekte sich gegenseitig so weit aufschaukeln, dass das ganze System kippt.

„Es hat in der Geschichte der Erde fünf große Artensterben gegeben“, sagt Gressmann, „viele Forscher glauben, dass das System schon gekippt ist. Dass das sechste Artensterben schon ausgelöst worden ist“. Wenn das stimmt, wären das sehr schlechte Nachrichten. Bei den vergangenen Massenartensterben war die zu der Zeit dominante Art immer massiv betroffen. Die vorherrschende Art auf der Erde ist dieses Mal der Mensch.