Neuronen, Nervensystem, Zellen
solvod – stock.adobe.com
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Meilenstein

Atlas aller Gehirnzellen erstellt

In einem internationalen Großprojekt haben Hunderte Forscher und Forscherinnen die Zellen des menschlichen Gehirns in noch nie da gewesenem Detail untersucht und dabei unter anderem 3.000 verschiedene Hirnzelltypen gefunden. Der dabei entstandene Zellatlas ist frei zugänglich und soll dabei helfen, das menschliche Gehirn und neuronale Erkrankungen besser zu verstehen.

Das menschliche Gehirn besteht aus etwa 80 Milliarden Nervenzellen und einer ähnlichen Anzahl anderer Zellen. All diese Zellen, ihre Funktion und ihr Zusammenspiel zu erfassen – auch im Vergleich mit anderen Primaten und Säugetieren – war der Ausgangspunkt eines Großprojekts, das 2014 startete und an dem mehrere Forschungseinrichtungen in den USA und in Europa beteiligt waren.

21 Einzelstudien

Untersucht wurde dabei der zelluläre Aufbau des erwachsenen und des sich entwickelnden Gehirns auf funktioneller, genetischer und epigenetischer Ebene – unter anderem wollten die Teams herausfinden, wie viele unterschiedliche Zelltypen es gibt, wie sich die Zellen entwickeln und wie sich das Gehirn zweier Individuen bzw. das menschliche vom Primatenhirn unterscheidet.

Die ersten Antworten auf einige dieser Fragen werden nun zeitgleich in den Fachmagazinen „Science“, „Science Advances“ und „Science Translational Medicine“ in insgesamt 21 Einzelstudien präsentiert. Für die Arbeiten zum menschlichen Gehirn wurde unter anderem das Gewebe von Verstorbenen verwendet, die ihren Körper gespendet haben; außerdem Gewebsproben von Personen, die am Gehirn operiert worden waren.

Das Logo des „Science“-Themenschwerpunkt soll die Diversität der Gehirnzellen zeigen
Michael Nunn
Die Illustration des „Science“-Themenschwerpunkts (Ausschnitt) soll die Diversität der Gehirnzellen zeigen

„Das ist ein Schlüsselmoment in der Neurowissenschaft, wo neue Technologien es uns ermöglichen, den zellulären Aufbau des Gehirns besser zu verstehen“, meint Ed Lein vom Allen Institute for Brain Science, der Hauptautor einiger Studien, in einer der zahlreichen Aussendungen zum Themenschwerpunkt. Dank molekularbiologischen Methoden konnte man einen ersten Entwurf einer hochaufgelösten, kommentierten Landkarte der menschlichen Gehirnzellen erstellen. Die Daten fließen außerdem in den Human Cell Atlas ein, der ein Referenzmodell aller menschlichen Körperzellen werden soll.

Enorme Vielfalt

Insgesamt untersuchten die Forscher und Forscherinnen Zellen aus Hunderten Gehirnregionen und entdeckten mehr als 3.000 verschiedene Zelltypen, 80 Prozent davon sind Nervenzellen. Dabei enthält jede Zelle eigentlich dieselbe Erbgutsequenz. Es sind aber ganz unterschiedliche Proteine aktiviert – so komme diese enorme Vielfalt und die Komplexität des Gehirns zustande. Eine besonders große Ausdifferenzierung ließ sich beispielsweise im visuellen Cortex – also dort wo alles Gesehene verarbeitet wird – feststellen.

Wenn man wisse, welche Zelle welchen funktionierenden Genabschnitt braucht, könne man nicht nur besser verstehen, wie das Gehirn arbeitet, sondern auch welche Mutationen Störungen verursachen, heißt es in einer der Aussendungen. „Die Kartierung der verschiedenen Zelltypen im Gehirn und das Verständnis ihrer Zusammenarbeit werden uns letztendlich dabei helfen, neue Therapien zu entdecken, die auf einzelne Zelltypen abzielen, die für bestimmte Krankheiten relevant sind", so Studienautor Bing Ren von der University of California. Sein Team konnte molekularbiologische Aspekte von 107 verschiedenen Subtypen von Gehirnzellen mit einem breiten Spektrum neuropsychiatrischer Erkrankungen in Verbindung bringen, darunter waren Schizophrenie, bipolare Störung, Alzheimer-Krankheit und schwere Depression.

Embryonalentwicklung und Glioblastom

Weitere Forschungsarbeiten betrafen die Entwicklung des menschlichen Gehirns vom frühen Embryonalstadium an. Diese Forschung brachte dem Team von Sten Linnarsson vom schwedischen Karolinska Institut auch neue Erkenntnisse über das Glioblastom, einen der aggressivsten Hirntumoren. Demnach ähneln die Tumorzellen unreifen Stammzellen, die versuchen, ein Gehirn zu bilden, allerdings auf völlig unorganisierte Weise. „Wir beobachteten, dass diese Krebszellen Hunderte von Genen aktivierten, die für sie spezifisch sind, und es könnte interessant sein zu untersuchen, ob es ein Potenzial für die Suche nach neuen therapeutischen Zielen gibt“, erklärt Linnarsson.

Ähnlichkeiten und Unterschiede

Andere Studie zeigen, dass sich die Gehirne aller Menschen auf zellulärer Ebene grundsätzlich sehr ähnlich sind, aber beim Anteil bestimmter Zelltypen gibt es große interindividuelle Unterschiede. „Es gibt keinen prototypischen Menschen“, schreiben Alyssa Weninger von der University of North Carolina and Paola Arlotta von der Harvard University in einem Begleitkommentar zu diesen Ergebnissen. Interessanterweise lasse sich nur ein Bruchteil der Variationen durch demografische Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Abstammung erklären. Die Ursache für die deutliche Varianz bleibe also vorerst unklar.

Im Vergleich mit unseren nächsten Verwandten wie Schimpansen und Gorillas fanden sich viele zelluläre Ähnlichkeiten, wie ein anderes Team berichtet. Bei den in den Zellen aktivierten Genen zeigten sich aber auch große Abweichungen zwischen Mensch und Tier, was vor allem mit der Vernetzung zwischen den Nervenzellen zu tun habe. Der Unterschied könnte manche Fähigkeiten des Menschen erklären.

Der Zellatlas wird künftig für alle Forscher und Forscherinnen frei verfügbar sein. „Dies ist wirklich der Beginn einer neuen Ära in der Hirnforschung, in der wir besser verstehen können, wie sich Gehirne entwickeln, wie sie altern und von Krankheiten in Mitleidenschaft gezogen werden“, sagte Joseph Ecker vom Salk Institute, der an mehreren Studien beteiligt war.