Zwei junge Frauen in Moskau, die eine macht ein Selfie
AFP – NATALIA KOLESNIKOVA
AFP – NATALIA KOLESNIKOVA
Psychologie

Wie wir mit Selfies „sprechen“

Selfies sind keine acht- und gedankenlos gemachten Ich-Fotos, sondern laut einer neuen Studie eine gelungene Form von Kommunikation. Wer Selfies macht, transportiert ohne Worte Gefühle, Stimmungen und anderes – und das sehr erfolgreich.

„Mit Selfies können wir unsere Emotionen und Gemütszustände ausdrücken, zum Teil auch lenken, was andere Menschen über uns denken sollen oder können“, sagt Tobias Schneider, Psychologe an der Universität Bamberg, gegenüber science.ORF.at. Gemeinsam mit seinem Kollegen Claus-Christian Carbon hat er die Studie publiziert, die soeben in der Fachzeitschrift „Frontiers in Communication“ veröffentlicht wurde.

1.001 Selfies analysiert

Selbstbildnisse an sich sind nichts Neues, schon aus der Antike sind vereinzelte Zeugnisse bekannt. In der Renaissance stieg die Zahl von Selbstporträts sprunghaft an. Digitalkameras und Handys haben Ich-Darstellungen zu einem Massenphänomen gemacht – und damit auch zu einem Gegenstand der Forschung.

Selfies kann man auf verschiedene Weisen analysieren, meistens wurden dazu bisher Hashtags – also begleitende Textinformationen – benutzt. „Wir wollten hingegen wissen, was die Betrachterinnen und Betrachter einzig aufgrund des Fotos wahrnehmen“, erklärt Schneider.

Die Psychologen legten deshalb rund 130 Studienteilnehmerinnen und -teilnehmern genau 1.001 Selfies aus der Datenbank Selfiecity vor und fragten sie nach ihren ersten Eindrücken. Schneider und Carbon sammelten diese Eindrücke und teilten sie in 26 Kategorien ein: Zum Beispiel umfasste die Kategorie „Stimmung“ Kommentare, die die Befragten über die Stimmung der Ich-Fotografinnen und -Fotografen machten.

Übereinstimmung zwischen Senden und Empfang

Die Wissenschaftler analysierten dann, wie häufig diese Kategorien in den Antworten auftauchten und ob sie zusammen auftraten. Daraus bildeten sie fünf Cluster von Kategorien bzw. „semantische Profile“. Möglich war das nur, weil die Eindrücke der Befragten sehr ähnlich waren.

„Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir so klar abgrenzbare Cluster und Kategorien von Selfies finden“, sagt Schneider. Dies spreche dafür, dass die Selfie-Macherinnen und -Macher ihre Gefühle, Stimmungen und andere Botschaften gut kommuniziert haben. Überprüft wurde das zwar in der aktuellen Studie nicht, „wir gehen aber davon aus, dass es eine große Übereinstimmung zwischen gesendeter und empfangener Botschaft gibt“, so Schneider.

Semantischer Profil des Clusters „Theory of Mind“ samt Kategorien
Semantischer Profil des Clusters „Theory of Mind“ samt Kategorien

“Ästhetische Selfies“ überwiegen

Mit rund 27 Prozent das größte Bedeutungscluster ist laut Studie „Ästhetik“: „Ästhetische Selfies muten sehr künstlerisch an“, erklärt Schneider. „Das heißt, der Bildausschnitt wird sehr bedachtsam gewählt, es werden zum Beispiel Spiegel benutzt, um einen bestimmten Ausschnitt des Körpers zu zeigen, und auch die Pose spielt eine große Rolle. Einige dieser Selfies werden auch direkt vor Kunstwerken gemacht – echte Kunst also integriert.“

Die weiteren Bedeutungscluster: „Imagination“, also Bilder, die die Befragten dazu brachten, sich vorzustellen, wo sich die Selfie-Fotografierenden befanden oder was sie taten; „Eigenschaft“, also Bilder, die auf die Persönlichkeit schließen lassen; bei „Zustand“ ging es um Bilder, die sich mit Stimmung und Atmosphäre befassten, und bei „Theory of Mind“ um solche, die Annahmen über die Motive oder die Identität der Fotografierenden zuließen.

Effektive Kommunikation

Besonders letzteres sei erstaunlich, betont Schneider. Denn dabei geht es um Eigenschaften oder Merkmale, die zum Teil gar nicht sichtbarer Bestandteil der Selfies sind, z. B. um die Herkunft der Abgebildeten. Auf Umwegen geben die Bilder aber Hinweise darauf – die Betrachterinnen und Betrachter können die versteckten Hinweise quasi entziffern und Mutmaßungen anstellen.

„Wir waren ziemlich beeindruckt, wie oft die Kategorie ‚Theory of Mind‘ geäußert wurde, denn das ist eine sehr anspruchsvolle Art, innere Gefühle und Gedanken zu kommunizieren“, sagt Schneider. „Es zeigt, wie effektiv Selfies in der Kommunikation sein können.“