Wellen und Strömungen im Meer
Andrey Armyagov – stock.adobe.com
Andrey Armyagov – stock.adobe.com
Interview

Des Meeres und der Mathematik Wellen

Die Weltmeere bestehen aus unvorstellbar vielen Wassermolekülen. Mathematisch lässt sich deren Verhalten berechnen. Daraus auf Wellen, Strömungen oder gar Tsunamis zu schließen ist aber enorm schwierig. Die französische Mathematikerin Isabelle Gallagher hat sich dennoch darauf spezialisiert – und wurde dafür soeben in Wien ausgezeichnet.

Isabelle Gallagher, Professorin an der École Normale Supérieure de Paris, war Ende vergangener Woche Gast am Erwin Schrödinger Institut für Mathematik und Physik (ESI) in Wien. Sie war Teilnehmerin einer Konferenz zum 30-Jahr-Jubiläum des Instituts und bekam dort die ESI-Medaille verliehen.

Ozeane sind „rotierende Fluide“

Gallagher ist Expertin für Strömungsmechanik, beschreibt also mathematisch, wie sich Flüssigkeiten verhalten. Die physikalischen Grundlagen dafür sind äußerst komplex, das beginnt schon mit der Anzahl der beteiligten Moleküle. In einem Glas Wasser etwa befindet sich grob geschätzt eine Quadrillion von ihnen – das ist eine Zahl mit 24 Nullen. Im Ozean sind es entsprechend noch einmal etliche Zehnerpotenzen mehr.

Noch komplizierter wird die Berechnung von Strömungen durch den Umstand, dass die Erde nicht stillsteht, sondern sich ständig dreht – und mit ihr das Wasser, das sie zu großen Teilen bedeckt. Mathematisch betrachtet steht dahinter eine „Theorie rotierender Fluide“, und genau dafür wurde Gallagher nun mit der ESI-Medaille ausgezeichnet. „Wenn man in einem Boot sitzt und auf die Wellen rundherum schaut, hat die Erdrotation keinen großen Einfluss. Betrachtet man die Erde aber aus der Ferne, dann sehr wohl“, sagt Gallagher.

Die Mathematikerin Isabelle Gallagher steht vor einer grünen Kreidetafel
ORF, Lukas Wieselberg
Isabelle Gallagher am ESI in Wien

Aus den dreidimensionalen Ozeanen werde ein Objekt, das sich fast so verhält, wie wenn es nur aus zwei Dimensionen bestehen würde. „Und das hängt mit der Tatsache zusammen, dass sich die Erde viel schneller dreht als ein einzelnes Teilchen im Meer. Die Erde braucht für eine volle Umdrehung 24 Stunden, im gleichen Zeitraum bewegt sich ein Wassermolekül aber vielleicht nur ein paar hundert Meter.“

Mikro- und Makroperspektive

Mit bestimmten mathematischen Gleichungen lässt sich das Verhalten und das Zusammenspiel jedes einzelnen dieser Teilchen beschreiben. Andere Gleichungen („Navier-Stokes-Gleichungen“) wiederum liefern mathematische Modelle von Strömungen. „Beide modellieren dasselbe Objekt, aber in unterschiedlichen Maßstäben, die einen mikroskopisch, die anderen makroskopisch“, erklärt Gallagher.

Wie diese beiden Ebenen zusammenhängen, untersucht sie ebenso wie die Frage, ob diese Gleichungen mathematisch überhaupt eindeutig gelöst werden können. In der Liste der Millennium-Probleme ist diese Frage eine von sieben ungelösten der Mathematik.

Warum der Golfstrom fließt, wie er fließt

Aus menschlicher Sicht ist es relativ unerheblich, wie sich ein einzelnes Wassermolekül im Meer verhält. Nicht aber, ob sich Wellen zu gefährlichen Monsterwellen auftürmen oder ob Strömungen stärker oder schwächer werden. In Zusammenarbeit mit der Physik, die die reale Welt beobachtet, kann die Mathematik dazu beitragen, solche Phänomene besser zu verstehen. Etwa den Golfstrom, der als Wärmepumpe für Europa gilt, sagt Gallagher.

„In dieser Richtung wurden zuletzt große Fortschritte gemacht. Kollegen haben etwa gezeigt, warum der Golfstrom die Richtung hat, die er hat. Sie versuchen auch immer mehr Physik in die Gleichungen einzubauen, was die Dinge schwieriger, aber realistischer macht.“

Visualisierung des Golfstroms
NASA’s Scientific Visualization Studio
Visualisierung des Golfstroms

Schwierig: Tsunamis vorhersagen

Daraus könnte eine präzisere Beschreibung der für das Klima so wichtigen Meeresströmungen erfolgen – im besten Fall auch bessere Prognosen. „Die Mathematik erklärt oft Dinge. Dann beobachtet die Physik etwas, und die Mathematik versucht zu erklären, warum das so ist. Aber natürlich möchten wir auch vorhersagen“, so Gallagher. Mathematische Modelle liegen etwa allen Prognosen zur Klimaerwärmung in den nächsten Jahrzehnten zugrunde. Dafür gibt es mittlerweile sehr zuverlässige Daten.

Noch viel schwieriger seien Vorhersagen, die äußerst unwahrscheinliche Ereignisse berechnen – etwa Tsunamis im Meer. „Sie sind wirklich sehr schwer vorherzusehen, da kommt man mit der üblichen Statistik nicht weiter.“ Strömungsmechanik, Physik, Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung müssten zusammenarbeiten, so Gallagher, um Phänomene wie Tsunamis besser zu beschreiben – und vielleicht auch besser vorherzusagen.

Affinität zu Musik

Neben Mathematik hat Gallagher noch eine zweite Leidenschaft: Musik. Sie spielt Klavier und Bratsche – letztere hätte sie beinahe mit nach Wien gebracht. „Aber dann dachte ich, ich möchte die Gäste im Hotel nicht belästigen.“ Bei einem Rundgang habe sie jedenfalls Gedenkstätten zu Mozart, Beethoven und Chopin besucht. Eine Affinität zu Musik ist in der Mathematikzunft häufig anzutreffen. Ob es da eine Art natürliche Verbindung gibt?

„Da bin ich mir nicht sicher“, sagt Gallagher. „Aber gleichgültig, ob man in Mathematik oder einer anderen Disziplin forscht, manchmal muss man diese Rolle vergessen und etwas ganz anderes machen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen spielen ein Instrument oder zeichnen. Wenn ich Musik spiele, denke ich nicht an Algebra oder Geometrie, sondern nur an die Noten.“

„Alle sollten ein bisschen Wissenschaft verstehen“

Die französische Mathematikerin hat darüber hinaus eine soziale Ader und unterstreicht die Wichtigkeit von Wissenschaftskommunikation. Sie besucht deshalb gerne Kinder und Jugendliche an Schulen und war auch schon in Gefängnissen, um über ihre Forschung zu sprechen. „Jeder und jede sollte sich ein bisschen mit Wissenschaft auskennen. Aber in der Coronavirus-Pandemie sind immer mehr Menschen wissenschaftsskeptisch geworden“, beobachtet die Mathematikerin.

Natürlich gebe es neben der Wissenschaft noch viele andere schöne Dinge zu tun. „Aber man muss ein bisschen Wahrscheinlichkeit und Statistik verstehen, um zu wissen, was um einen herum geschieht. Deshalb finde ich es auch sehr wichtig ist, dass sich Menschen aus der Wissenschaft mit Bürgerinnen und Bürgern treffen – und dass jeder und jede auch ein bisschen Wissenschaftler sein muss.“