Berge und Küste der Antarktis
Anna Hogg
Anna Hogg

Westantarktische Gletscher schrumpfen schneller

Die Gletscher der westlichen antarktischen Halbinsel waren über einen längeren Zeitraum vergleichsweise stabil. In den vergangenen Jahren hat die Erwärmung des Ozeans aber zu einem dynamischen Wandel geführt, wie ein Forschungsteam mit österreichischer Beteiligung anhand des Cadman-Gletschers zeigt.

Das Team um den Glaziologen Benjamin Wallis von der University of Leeds untersuchte für die im Fachjournal „Nature Communications“ erschienene Studie mithilfe hochauflösender Satellitendaten und ozeanografischen Messungen die Stabilität des Cadman Gletschers zwischen 1991 und 2022. Eine wichtige Rolle spielt dabei Schelfeis, das die Geschwindigkeit der Bewegung des Gletschers in Richtung Meer verlangsamt. Schmilzt das Schelfeis, verringert sich seine Stützkraft.

In der 30-jährigen Zeitreihe der Untersuchung veränderten sich die Fließgeschwindigkeiten deutlich. Der Gletscher beschleunigte sich von 1,67 Kilometer pro Jahr im Februar 1991 auf einen Höchstwert von 3,20 Kilometer pro Jahr im Mai 2022, ein Zuwachs von 91 Prozent. Das Schelfeis zeigte in diesem Zeitraum einen noch größeren Geschwindigkeitsanstieg von 1,33 auf 3,87 Kilometer pro Jahr (plus 191 Prozent).

Der größte Teil dieser Entwicklung ereignete sich im Zeitraum zwischen 2014 und 2022. Dazu gehört ein großes Beschleunigungsereignis von November 2018 bis Dezember 2019, durch das die Fließgeschwindigkeit des Gletschers um 44 Prozent und des schwimmenden Schelfeises um 94 Prozent zunahm. Da dies bei benachbarten Gletschern nicht der Fall war, dürften die Treiber dieser Veränderung beim Cadman-Gletscher in diesem Zeitraum spezifisch sein.

Hohe Meerestemperaturen

Konkret sollen ungewöhnlich hohe Meereswassertemperaturen Anfang 2018/19 einen raschen Wandel ausgelöst haben. Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vermuten, dass das Schelfeis, umgeben von wärmerem Meerwasser, das über einen 400 Meter tiefen Kanal dorthin gelangte, dünner wurde, sich vom Boden löste und den Gletscher quasi nicht mehr zurückhalten konnte. Beim Schelfeis handelt es sich um großflächige, bis zu 1.000 Meter dicke Eisplatten, die auf dem Meer schwimmen, aber noch mit dem Land verbunden sind. Gespeist werden sie von schnell fließenden Teilen des Eisschildes.

Dadurch erhöhten sich die Geschwindigkeit, mit der der Gletscher floss, und das als Kalben bezeichnete Abbrechen größerer Eisstücke stark. Zwischen November 2018 und Dezember 2021 zog sich der Gletscher um acht Kilometer zurück, bis das Schelfeis am Ende des Gletschers – dort, wo sich das Eis ins Meer erstreckt und am Meeresboden verankert ist – zusammenbrach.

Eines der letzten Schelfe

Der Cadman sei insofern ein außergewöhnlicher Gletscher, als er eines der letzten Eisschelfe an der Westseite der Antarktischen Halbinsel aufgewiesen habe, erklärte Thomas Nagler von der Innsbrucker Forschungsfirma ENVEO, einer der Studienautoren, gegenüber der APA. Sein Unternehmen arbeitet seit vielen Jahren mit der Gruppe aus Leeds zusammen und ist auf Eisdynamik und Massenflüsse in der Antarktis und auf Grönland spezialisiert.

Das Team berechnete eine kontinuierliche Zeitreihe von monatlichen Eisgeschwindigkeitskarten der Antarktis aus Daten des Satelliten Sentinel-1 der Europäischen Weltraumagentur ESA und vom EU-Erdbeobachtungsprogramm Copernicus. „2018/19 haben wir einen starken Anstieg der Eisdynamik beobachtet, die Fließgeschwindigkeit hat sich erstaunlich erhöht, sowohl auf dem Schelfeis als auch auf dem Gletscher, ausgelöst vor allem durch das warme Meerwasser. Da wurde ein bestimmter Punkt überschritten“, so Jan Wuite, ebenfalls von ENVEO und Co-Autor der Arbeit.

Der Cadman-Gletscher befinde sich in einem Zustand „erheblichen dynamischen Ungleichgewichts“. Das Eis auf dem Gletscher sei jährlich um etwa 20 Meter dünner geworden. Jedes Jahr würden zudem rund 2,16 Mrd. Tonnen Eis vom Gletscher in den Ozean fließen.

Plötzliche Verschlechterung

„Wir waren überrascht zu sehen, wie schnell sich Cadman von einem scheinbar stabilen Gletscher zu einem Gletscher entwickelt hat, bei dem wir eine plötzliche Verschlechterung und einen erheblichen Eisverlust beobachten konnten“, erklärte Wallis in einer Aussendung. Solche Kipppunkte könnten den Eisabfluss sowie den Rückzug und die dynamische Ausdünnung von Gletschern auf der Antarktischen Halbinsel extrem verstärken.

Eine Analyse habe gezeigt, dass Unterwassergesteinsstrukturen in einer Tiefe von rund 200 Metern als Verteidigungsbarriere fungieren und wärmeres Wasser davon abhalten könnten, die Gletscher zu erreichen. Die Forscher vermuten aber, dass andere Gletscher auf der Antarktischen Halbinsel aufgrund der Unterwassergeologie möglicherweise ähnlich anfällig für plötzliche Veränderungen sind. Die Interaktion zwischen Eis und Ozean stelle inzwischen für die gesamte Antarktis eine wichtige Komponente dar.