Die Erde im Weltraum, im Hintergrund: die Galaxis
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Experiment

Durchbruch bei Herstellung von Antimaterie

Im Universum gibt es viel Materie, aber so gut wie keine Antimaterie. Die Ursache bleibt unbekannt. Am Kernforschungszentrum CERN gelang jüngst ein entscheidender Fortschritt: Die notorisch hitzige Antimaterie lässt sich nun erstmals beruhigen – und damit auch untersuchen.

Immanuel Kant bezeichnete es einst als „Skandal der Philosophie“, dass es noch immer keinen endgültigen Beweis für die Realität der Außenwelt gebe. In Anlehnung daran könnte man auch von einem „Skandal“ sprechen, der die Physik seit mehr als 80 Jahren begleitet, so lange schon, dass er fast zur Normalität geworden ist. Nämlich das Unvermögen, das Verhältnis von Materie und Antimaterie befriedigend zu erklären.

Das Universum ist voller Materie: Sterne, Staub, Planeten – auf zumindest einem von ihnen ist aus dieser Materie sogar Leben entstanden. Doch das Gegenstück mit vertauschter Ladung, die Antimaterie, sucht man vergeblich. Sie tritt – wenn überhaupt – bloß in Spuren auf und verschwindet nach Kontakt mit der normalen Materie sofort wieder, weil sich die beiden gegenseitig vernichten. Also eine gigantische Asymmetrie, die sich da im Universum ausgebildet hat. Und Asymmetrien sind in der Physik grundsätzlich erklärungsbedürftig, um nicht zu sagen: verdächtig.

Warum hat sich die Schöpfung so eindeutig auf die Seite der Materie geschlagen? Dafür muss es einen Grund geben. Diese Frage treibt den Physiker Carsten Welsch von der Universität Liverpool an. Nicht zuletzt deshalb, weil die Sache auch einen existenziellen Beiklang hat: Wäre die Symmetrie nicht gebrochen, gäbe es bloß Strahlung, den leeren Raum und nicht viel mehr. Und somit auch keine Physiker und Physikerinnen, die solchen Fragen auf den Grund gehen. Carsten Welsch vermutet jedenfalls, dass die Schwerkraft zur Lösung des Rätsels führen könnte.

science.ORF.at: Herr Welsch, wie stellt man Antimaterie eigentlich her?

Carsten Welsch: Das ist nicht einfach. Man braucht dafür einen Beschleunigerkomplex, wie es ihn derzeit nur am Kernforschungszentrum CERN in Genf gibt. Man fängt zunächst mit Protonen an. Die gibt es reichlich und die bringt man zunächst auf sehr hohe Energien. Den hochenergetischen Protonenstrahl schießen wir dann auf einen Block Metall. Bei diesem Feuerwerk entstehen nach der bekannten Formel E=mc2 jede Menge Produkte, unter anderem auch Antimaterie-Teilchen, die wir dann herausfiltern. Und für unsere Präzisionsexperimente weiterverwenden.

„Filtern“ klingt simpel, ist es aber vermutlich nicht.

Welsch: Das stimmt, wir müssen Sorge tragen, dass aus dieser Explosion, dieser Mischung von Teilchen, die Antiteilchen herausgefiltert werden. Man muss den Strahl zunächst reinigen – das macht man mit elektrischen und magnetischen Feldern, die Antiteilchen sind dann aber immer noch mit sehr hohen Energien unterwegs. Das heißt, im nächsten Schritt muss man sie mit Hilfe eines Speicherrings abbremsen und kühlen, um sie letztendlich in eine Antimateriefalle zu injizieren.

Im Rahmen des AEgIS-Experiments am CERN versuchen Sie herauszufinden, warum die Antimaterie aus dem Universum verschwunden ist. Wie weit sind Sie mit ihren Versuchen?

Welsch: Lassen Sie mich zuerst erwähnen, warum wir das überhaupt machen. Nach unserem derzeitigen Physik-Verständnis sollte es eigentlich gleiche Teile von Materie und Antimaterie im Universum geben. Gott sei Dank ist das nicht so. Denn wäre es so, würden sich die beiden treffen und in reines Licht annihilieren. Das heißt, wir wären nicht da und könnte dieses Gespräch nicht führen. Es muss irgendeinen Grund für diese Asymmetrie im Universum geben. Einen Grund dafür, dass am Ende die Materie überlebt hat und es keine freie Antimaterie gibt. Genau da setzen unsere Experimente an. Wir versuchen die Antiteilchen einzufangen und so weit zu kühlen, bis sie zur Ruhe gekommen sind. Und dann kann man sich diese Teilchen mit extrem hoher Genauigkeit ansehen. Gibt es irgendwelche Unterschiede zur normalen Materie? Das wollen wir wissen.

Welche Unterschiede könnten das sein?

Welsch: Zum Beispiel könnte man sich die Frage stellen, welche Struktur die Energielevel eines Antiatoms haben. Bisher hat man hier keine Unterschiede zur normalen Materie gefunden. Man kann sich auch fragen: Wie verhält es sich denn mit den Auswirkungen der Gravitation, also dem Schwerefeld der Erde? Gibt es hier vielleicht Unterschiede zwischen Teilchen und Antiteilchen? Darauf zielt das AEgIS-Experiment ab. Wir arbeiten Präzisionsmessungen, um genau das zu beantworten.

Dafür muss man allerdings die Antimaterie unter Kontrolle bringen. In einer Studie berichtet das AEgIS-Team jetzt von einem Durchbruch mit Positronium, also einem künstlichen Atom, bestehend aus einem Elektron und seinem Antiteilchen. Was ist da gelungen?

Welsch: Wir haben zunächst eine Wolke von Positronium hergestellt – ein Material, das sehr kurzlebig ist, die normale Lebenszeit beträgt ungefähr 200 Nanosekunden. Und dann haben wir diese Wolke mit Laserlicht überlagert. Das hatte einen Kühleffekt. Wir können die Temperatur nun absenken. Die Idee dahinter wurde schon vor 35 Jahren formuliert. Bisher ist das keiner Arbeitsgruppe gelungen. Ein entscheidender Schritt, denn diese grundlegenden Experimente kann man nur mit gekühltem Positronium durchführen. Was wir letztlich machen wollen, ist: Antimaterie – nämlich Anti-Wasserstoff – im Schwerefeld der Erde nach unten fallen zu lassen.

CERN: Laboraufbau für Experimente mit Antimaterie
CERN
AEgIS-Experiment am CERN: Hier wird Antimaterie gekühlt

Wie geht es weiter?

Welsch: Wir haben nun die gesamte Apparatur aufgebaut, die Protonenquelle ist sehr effizient, die Laser funktionieren, jetzt müssen wir die Bausteine zusammenfügen. Unser Arbeitsprogramm zielt auf die nächsten fünf bis zehn Jahre ab, aber ich bin mir sicher, dass wir in naher Zukunft interessante Messungen liefern werden. Vorhergesagt wurde die Antimaterie übrigens bereits 1928 vom Briten Paul Dirac, der Nachweis von Positronen gelang bereits vier Jahre später – aber es hat bis ins Jahr 1989 gedauert, bis man auch Anti-Wasserstoff herstellen konnte.

Nun wurde in den 1960ern bei bestimmten Teilchenzerfällen – Stichwort „CP-Verletzung“ – bereits ein kleiner Unterschied zwischen Materie und Antimaterie entdeckt. Offenbar reicht der nicht aus, um die Dominanz der Materie im Universum zu erklären?

Welsch: So ist es, genau deshalb brauchen wir diese Präzisionsmessungen im Schwerefeld.

Was sagt eigentlich die Theorie zu dieser Frage?

Welsch: Das Problem, das wir Physiker haben, ist von enormer Größe. Denn eigentlich müssen wir uns eingestehen, dass wir 95 Prozent des Universums grundsätzlich nicht verstehen. Denn die normale Materie macht nur fünf Prozent aus, 95 Prozent der Energie im Universum stammen von Dunkler Materie und Dunkler Energie. Irgendetwas stimmt nicht, ist grundsätzlich falsch. In unseren Theorien muss es also Fehler geben, sowohl im Standardmodell der Elementarteilchen als auch in der Relativitätstheorie. Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, sich das anzuschauen. Man kann Teleskope nehmen, man kann Teilchenbeschleuniger nehmen für Hochenergie-Experimente oder man kann die Atomphysik mit Antimaterie machen – so wie wir es bei AEgIS tun.

Wo könnte der Fehler liegen?

Welsch: Lassen Sie mich so antworten: Ich glaube nur, was ich gesehen und gemessen habe. Unser Antrieb kommt daher, dass wir Abweichungen im Experiment finden – und die Theorie dann freundlich herausfordern wollen.

Wäre es denkbar, dass es im Universum größere Klumpen von Antimaterie gibt, die man bisher noch nicht entdeckt hat?

Welsch: Im Prinzip ja, man sieht einer Galaxie ja nicht an, ob sie aus Materie oder Antimaterie besteht. Nur müsste es dann auch eine Erklärung geben, wie es zu dieser Verklumpung kommt und warum das in unserer Galaxie nicht der Fall ist. Wir haben keinerlei Anzeichen, dass es irgendwo freie Antimaterie gibt. Mir erscheint das jedenfalls nicht sehr wahrscheinlich. Davon abgesehen würden wir in diesem Fall auch Energieausbrüche beobachten, wenn Materie und Antimaterie zusammenstoßen. Das ist nicht der Fall. Und natürlich könnte man sich weiteren Spekulationen hingeben, ich halte es strategisch allerdings für sinnvoller, sich dem Ganzen mit Präzisionsmessungen zu nähern. Also immer tiefer zu graben, bis wir den Kern des Problems gefunden haben.