Fermilab, Teilchenphysik, Elementarteilchen
Fred Ullrich
Fred Ullrich
Teilchenphysik

Elementarteilchen genau wie nie vermessen

In den USA haben Physiker und Physikerinnen die Masse eines wichtigen Elementarteilchens mit bisher unerreichter Präzision vermessen. Als „Entdeckung“ wollen die Forschenden das Experiment noch nicht bezeichnen – wohl aber als „Rüttler am Standardmodell der Teilchenphysik“.

Denn die im Fachmagazin „Science“ veröffentlichte Studie weckt Zweifel am Standardmodell der Teilchenphysik, der bisher erfolgreichsten wissenschaftlichen Theorie zur Beschreibung des Universums. Dem internationalen Konsortium „Collider Detector at Fermilab“ (CDF) gelang es, die Masse des W-Bosons etwa zweimal genauer zu bestimmen als dies bei der bisher besten Messung der Fall war.

Das W-Boson ist eines der schwersten bekannten Teilchen im Universum, es besitzt etwa die 80-fache Masse eines Protons. Das Botenteilchen ist Vermittler der schwachen Wechselwirkung, eine der vier fundamentalen Grundkräfte der Physik, und somit ein Schlüsselbaustein des Standardmodells. Seine Existenz und detaillierte Eigenschaften wurden erstmals in den 1960er Jahren vorhergesagt, 1983 wurde es am CERN bei Genf entdeckt.

Noch keine „Entdeckung“

Das aus 400 Forscherinnen und Forschern bestehende Team am Fermilab nahe Chicago analysierte Daten, die während zehn Jahren mit dem Teilchenbeschleuniger Tevatron am Fermilab aufgezeichnet und wiederum während zehn Jahren analysiert wurden. Demnach stimme die Präzisionsmessung der Masse des W-Bosons um sieben Standardabweichungen nicht mit dem Standardmodell überein.

Fermilab, Teilchenphysik, Elementarteilchen
Fermilab

„Eine solche Abweichung liegt jenseits der Entdeckungsmöglichkeiten in der Welt der Teilchenphysik“, sagte Ben Kilminster im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Er ist Professor für experimentelle Teilchenphysik an der Universität Zürich und Mitglied des CDF-Konsortiums. In der Teilchenphysik besteht die Konvention, bei Effekten ab drei Standardabweichungen von einem „Hinweis“ zu sprechen, ab fünf Standardabweichungen von einer „Entdeckung“. So deuten die Ergebnisse laut Kilminster stark auf die Möglichkeit hin, dass es bisher noch unentdeckte Teilchen oder Kräfte gebe.

„Blow“ und Wegweiser

Auch für André Hoang von der Uni Wien ist das Ergebnis „nicht zu ignorieren“ und – sofern es dabei bleibt – ein „Blow“ für die bisher etablierte Theorie. Der Teilchenphysiker weist gegenüber science.ORF.at allerdings auf eine Ungereimtheit hin. Warum eine frühere Version des Experiments keine Abweichung vom Standardmodell gesehen habe, die neueste indes eine beträchtliche – dies werde in der vorliegenden Arbeit nicht erklärt. Hoangs Fazit: Das Messergebnis sei ein Wegweiser in Richtung neue Physik beziehungsweise ein „Nadelöhr für zukünftige Theorien“, durch die nun alle hindurchmüssen.

„Rüttler am Standardmodell“

Mit „Ein Rüttler am Standardmodell“ betiteln denn auch Claudio Campagnari von der US-Universität Kalifornien, Santa Barbara und Martijn Mulders vom CERN einen Begleitartikel zur Studie. Die Forscher betonen allerdings, dass „außergewöhnliche Behauptungen außergewöhnliche Beweise erfordern“. Deshalb brauche es zusätzliche Experimente, um die vorliegenden Ergebnisse unabhängig zu bestätigen – oder zu verwerfen. Sie weisen darauf hin, dass Wissenschaftler am Large Hadron Collider (LHC) am CERN bereits größere Datenmengen zu W-Bosonen gesammelt hätten. Damit könne im Prinzip noch eine bessere Präzision erreicht werden.

Auch Ben Kilminster möchte nicht mit letzter Überzeugung von einer Entdeckung sprechen. „Vergleichbare Messresultate von anderen Experimenten würde das Vertrauen in unsere Messungen stärken“, sagte er.

Herantasten an die letzten großen Rätsel

Zudem seien nun die theoretischen Physiker gefragt, um die Berechnungen beruhend auf dem Standardmodell eingehend zu prüfen. „Das ultimative Vertrauen wird uns aber erst die Entdeckung neuer Teilchen oder Kräfte schenken, die aufgrund ihrer Wechselwirkungen die bisher herrschende Diskrepanz zwischen Messung und Berechnung erklären könnten“, so Kilminster.

Gewisse Rätsel der Physik lassen sich mit dem Standardmodell bisher nicht knacken. Beispielsweise gibt es keine Antwort darauf, worauf das offenkundige Ungleichgewicht zwischen Materie und Antimaterie im Universum beruht. Auch hat das Standardmodell keine Erklärung für die dunkle Materie. Auf der Suche nach einer Theorie, die das Universum ohne Widersprüche abbildet, rücken Forschende jedenfalls in immer präzisere Messbereiche vor.