Stammzellen und Neuronen: diverse Zelltypen unter dem Mikroskop
Ira Schieren/Columbia’s Zuckerman Institute
Ira Schieren/Columbia’s Zuckerman Institute
Zellatlas

Wie viele Zellen gibt es?

Das Forschungsprojekt „Human Cell Atlas“ hat sich zum Ziel gesetzt, sämtliche Zellen im menschlichen Körper zu katalogisieren. In fünf Jahren könnte die erste Version fertig sein, klar ist schon jetzt: Die Zahl der Zelltypen wurde extrem unterschätzt.

Im menschlichen Körper, so steht es zumindest im Lehrbuch, gibt es etwa 200 verschiedene Zellarten. Diese Angabe dürfte alsbald überholt sein, sagt Sarah Teichmann. Die Bioinformatikerin vom Wellcome Trust Sanger Institute hat kürzlich mit ihrem Team die Muskelwand des Herzens unter die Lupe genommen – und allein dort über 60 verschiedene Zellarten entdeckt. „Da gibt es so viele feine Unterschiede, die wichtig sind für die Funktion der Organe. Wenn wir verstehen wollen, wie Krankheiten entstehen, müssen wir zunächst verstehen, wie eine gesunde Zelle funktioniert“, sagt Teichmann im ORF-Interview.

Praxistest in der Pandemie

Wenn man die am Herzen gewonnenen Daten auf den ganzen Körper hochrechnet, dann sind es wahrscheinlich 20.000 verschiedene Zelltypen, die es zu katalogisieren gilt. Das jedenfalls ist das Ziel des Forschungsprojekts „Human Cell Atlas“. Begonnen hat das von Teichmann und ihrer Kollegin Aviv Regev initiierte Projekt im Jahr 2016 mit einem „White Paper“ und einem Gründungskongress, mittlerweile sind 2.000 Forscher und Forscherinnen aus aller Welt daran beteiligt.

Dass die Sammlung der feinen Unterschiede in den menschlichen Organen auch einen unmittelbaren Nutzen bringt, zeigt eine Arbeit, die Teichmann im April letzten Jahres im Fachblatt „Nature Medicine“ veröffentlicht hat.

Darin wies sie mit ihrem Team erstmals nach, wo jene Rezeptoren liegen, mit denen sich das Coronavirus Zutritt zum menschlichen Körper verschafft. Das Ergebnis der über 700 Mal zitierten Studie ist mittlerweile ins Allgemeinwissen übergangen: Die Eintrittspforten des Virus sitzen in Zellen der Nase, der Augen sowie der Speicheldrüsen des Mundes. Weshalb Masken einen guten Schutz vor Virusinfektionen bieten – eine Erkenntnis, die im letzten Frühjahr zunächst nicht offensichtlich war.

Wie die Zelle zu ihrer Identität kommt

Die Kommandobrücke des „Human Cell Atlas“ ist an zwei Instituten verankert, am Wellcome Trust Sanger Institute in Cambridge, Großbritannien, sowie am Broad Institute im US-Bundesstaat Massachusetts. Dass diese zwei Forschungszentren hier Pionierarbeit leisten, ist kein Zufall. Beide Institute waren schon an der ersten Großkatalogisierung des menschlichen Körpers, dem Humangenomprojekt, federführend beteiligt. Auf dem 2003 finalisierten Projekt aufbauend macht sich die Wissenschaftsgemeinde nun daran, neben der Erbgutsequenz auch die vielfältigen Wirkungen stromabwärts der Gene zu verstehen.

Dünnschnitt durch den Dünndarm mit verschiedenen Zelltypen
Grace Burgin, Noga Rogel & Moshe Biton, Klarman Cell Observatory, Broad Institute
Die Arbeit am Zellkatalog des Dünndarms ist bereits fortgeschritten

Neue Methoden wie „single cell genomics“ und „spatial genomics“ zeigen, wann Gene in Geweben aktiv werden, welche Proteine und Stoffwechselprodukte entstehen und wo der Zweck in diesem scheinbaren Chaos der Moleküle liegt, kurzum: Sie zeigen, wie jede einzelne Zelle zu ihrer Identität kommt und „weiß“, was sie zu tun hat.

In fünf Jahren könnte die erste Version des Zellatlas fertig sein, sagt Teichmann. Abgeschlossen werde die Arbeit an der Enzyklopädie des menschlichen Körpers damit freilich nicht sein. Denn die Identität eines Neurons, einer Darm- oder Herzmuskelzelle weist subtile Nuancen auf, die erst unter der molekularen Lupe sichtbar werden – wie weit sich dieser Blick ins Innere der Zelle noch nachschärfen lässt, wird sich wohl erst in Zukunft zeigen. Anwendungen sind jedenfalls jetzt schon möglich. Etwa in der Krebsmedizin.

Krebs heilen, Gütesiegel für Organoide

„Die Zellatlas-Daten werden häufig verwendet, um herauszufinden von welcher Zelle Tumoren abstammen. Vergleiche mit gesunden Zellen sind auch wichtig für die Erforschung von Erbkrankheiten wie der Zystischen Fibrose, eine Krankheit, die zu einer schlimmen Verschleimung der Lunge führt. Kollegen aus den USA haben mit Hilfe der Daten einen neuen Zelltyp entdeckt, der für diese Symptome verantwortlich ist.“ In beiden Fällen bieten die Einsichten in die Ursprünge der Krankheit auch Ansatzstellen für Therapien, bisher gilt die Zystische Fibrose als unheilbar.

Eine Forschungsachse des „Human Cell Atlas“ reicht nach Wien. Am Institut für Molekulare Biotechnologie hat Jürgen Knoblich vor acht Jahren erstmals Miniaturgehirne, sogenannte Organoide, in der Petrischale gezüchtet und mit diesen Biotech-Imitaten ein völlig neues Forschunsgfeld eröffnet.

Mittlerweile sind die Organoide fixer Bestandteil der neurobiologischen Grundlagenforschung – und nicht nur dort: Aus Stammzellen hergestellte Miniaturversionen gibt es auch von diversen anderen Organen, etwa von Darm, Herz und Niere. Unbeantwortet war bei all diesen Versuchen allerdings die Frage, inwieweit das Modell aus der Petrischale tatsächlich so funktioniert wie sein natürliches Vorbild.

Dieses Problem ließe sich mit Hilfe des Zellatlas lösen, sagt Teichmann. „Wir könnten durch den Vergleich mit den natürlichen Geweben sozusagen ein Gütesiegel für Organoide erstellen.“ Die Arbeiten daran laufen bereits, etwa in der Forschungsgruppe von Christoph Bock am CeMM, dem Centrum für Molekulare Medizin in Wien-Alsergrund. Das Ziel lautet: Wenn die Signatur der Moleküle im gesunden Gewebe bekannt ist, sollte es im Prinzip auch möglich sein, das Imitat immer weiter an das Original anzupassen. Bis es kaum mehr davon zu unterscheiden ist.