Fossilfragmente eines menschlichen Schädels – und die Rekonstruktion der fehlenden Stücke
Tel Aviv University
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Evolution

Wie der Neandertaler zu „unseren“ Genen kam

Der Neandertaler hat sich laut neuesten Fossilfunden nicht nur in Europa entwickelt, sondern auch in Vorderasien: Dort dürfte er bereits vor 200.000 Jahren den Homo sapiens getroffen haben. Der Kontakt könnte die Existenz rätselhafter Gensequenzen erklären.

An sich ist es nicht ungewöhnlich, dass angesichts neuer Funde das eine oder andere Detail in der Urgeschichte der Menschheit korrigiert werden muss. Das war in den letzten Jahren mehrfach der Fall – doch was Forscher und Forscherinnen um den österreichischen Anthropologen Gerhard Weber diese Woche im Fachblatt „Science“ berichten, fügt der Erzählung ein völlig neues Kapitel hinzu.

Die bisherige Version lautete: Der Neandertaler ist eine an die widrigen Bedingungen der Eiszeit angepasste Menschenart, die zunächst auf dem europäischen Kontinent entstand und erst dann in den Nahen Osten und vereinzelt sogar bis Sibirien vorgedrungen ist. Das ist laut neuesten Erkenntnissen falsch.

Proto-Neandertaler

Weber und sein Team haben in Nesher-Ramla, Israel, die Knochen eines 130.000 Jahre alten Menschen ausgegraben, der in keine der bisher bekannten Kategorien zu passen schien. Der Fund hat mit dem klassischen Neandertaler einiges gemeinsam, weist aber auch einige archaische Merkmale auf, die an den Homo erectus erinnern.

Fossilstücke: Kiefer und Scheitelbein eines Urmenschen
Tel Aviv University
Fundstücke aus Nesher-Ramla

Was ist das – ein neuer Menschentypus? Anatomische Detailvermessungen beweisen: Es handelt sich tatsächlich um einen neuen Vertreter der Gattung Homo, um einen Proto-Neandertaler vorderasiatischer Provenienz. Die Entstehungsgeschichte des Neandertalers ist also keineswegs auf Europa beschränkt. Weber und seine Kolleginnen von der Universität Tel Aviv und der Hebrew-Universität Jerusalem sind vielmehr der Ansicht, dass das Gebiet des heutigen Israel so etwas wie ein Brückenkopf war für urzeitliche Wanderungsbewegungen von West nach Ost und in die Gegenrichtung, Vermischung der Populationen inklusive.

Motor der Evolution: Klimawandel

Angetrieben wurden diese Wanderungsbewegungen wohl vor allem durch heftige Klimaschwankungen während des mittleren Pleistozäns. „Die Temperaturkurve ging rauf und runter wie in der Hochschaubahn. Wenn sich das Klima stark ändert, verändern sich auch Vegetation und Fauna. Manche Landstriche wurden sogar für Jahrtausende unbewohnbar, daher kamen die getrennten Menschenpopulationen immer wieder in Kontakt“, sagt Weber im Gespräch mit dem ORF.

Ausgrabungsstelle mit Leitern und Werkzeug
Yossi Zaidner
Grabungsstelle: Hier wurden die Fossilien entdeckt

Der Klimawandel schiebt den evolutionären Wandel also quasi an, die Bewegung hat sich auch der Anatomie des Nesher-Ramla-Menschen eingeschrieben: Sein Körper befindet sich im Übergang, archaisch ist er nicht mehr, Neandertaler ist er auch noch nicht ganz.

Vermischung mit Homo sapiens

Der neuartige Urmensch ist auch aus einem anderen Grund bemerkenswert. Wie man seit dem Aufkommen der Paläogenetik weiß, haben alle Menschen – ausgenommen Afrikaner – ein paar Prozent Neandertaler-Gene in ihrem Erbgut. Vor ein paar Jahren fanden Wissenschaftler heraus, dass das Umgekehrte ebenfalls zutrifft, auch der Neandertaler verfügte über Erbmaterial des Homo sapiens. Der Genfluss musste laut Berechnungen vor ca. 200.000 Jahren stattgefunden haben – und das war rätselhaft.

Denn der moderne Mensch kam erst vor 50.000 Jahren in Europa an, viel zu spät also, um sich mit dem dort ansässigen Neandertaler zu vermischen.

Im Licht der neuen Funde klärt sich dieser Widerspruch auf, die Puzzlesteine fügen sich nun zu einem Ganzen. Nachdem die Vor-Vorfahren des Neandertalers wohl schon vor 400.000 Jahren in Vorderasien angekommen waren (darauf wiesen bereits frühere Fossilfunde hin) und 2018 auch rund 180.000 Jahre alte Knochen des modernen Menschen in Israel gefunden wurden, ist klar: Die zeitliche Lücke schließt sich, die Nomadengruppen müssen sich in dieser Region oder zumindest in Vorderasien nähergekommen sein.

Neue Menschenart?

Im Prinzip hätte man die Fossilien aus Israel auch in eine neue Art einordnen können, sagt Weber. Doch davon habe man Abstand genommen. In „Science“ ist bloß vom Vertreter einer neuen Population die Rede, mehr nicht. „Es gibt unter den Anthropologen eine starke Tradition, aus jedem Fund eine neue Spezies zu machen, weil man damit seinen Namen verewigen kann. Wenn das jeder macht, wird es sehr unübersichtlich.“

Denn unübersichtlich sei die Lage ohnehin schon. Und dafür sind zunächst nicht die Anthropologen verantwortlich, sondern die pleistozänen Klimaschwankungen – sowie die folgenden Völkerwanderungen, durch die sich die Hominiden zu Zwischenformen aufgefächert haben. Der Nesher-Ramla-Mensch ist nur eine von vielen, mit weiteren Entdeckungen bleibt zu rechnen.