Eine leere Autobahn dazu ein Schild, auf dem steht „Bitte 2 Wochen zu Hause bleiben“
AFP – CHRISTOF STACHE
AFP – CHRISTOF STACHE
Faktencheck

Lockdown-Studie „verkürzt wiedergegeben“

Nicht selten werden einzelne Aspekte aus Studien herangezogen um die eigenen Position zu untermauern. Erst kürzlich ist dies mit einer vieldiskutierten Studie über die Sinnhaftigkeit von Lockdowns passiert. Ein APA-Faktencheck ergab nun: Die Studie wurde verkürzt wiedergegeben.

Die Studie dreier Ökonomen über einen angeblich sehr geringen Einfluss der Lockdown-Maßnahmen während der ersten Coronavirus-Welle auf Todeszahlen erregte vergangene Woche viel Aufmerksamkeit. Experten bewerteten die Metastudie, die 24 andere Studien aus unterschiedlichen Ländern auswählte und analysierte, kritisch: Die Kernaussage sei nicht haltbar.

Zu diesem Zeitpunkt zirkulierte diese vermeintliche Kernaussage bereits in Kreisen, in denen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus kritisch betrachtet werden. In zahlreichen Postings in den Sozialen Medien wurde sie als Beleg für die Behauptung benutzt, Lockdowns hätten keine Leben gerettet und seien wirkungslos gewesen. Laut Faktencheck der APA trifft die Studie aber gar keine generelle Aussage zu Lockdowns.

Bevölkerung reduzierte selbst Kontakte

Sie stellte demnach lediglich fest, dass in der ersten Coronavirus-Welle politisch verordnete Maßnahmen kaum mehr Tote verhindert haben als Länder, in denen das soziale Verhalten in der Gesellschaft freiwillig angepasst worden ist. Tatsächlich sagt der Inhalt der Studie aber folgendes aus: Verpflichtende nicht-pharmazeutische Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus zeigten zu Beginn der Pandemie kaum mehr Wirkung als von der Bevölkerung freiwillig vorgenommene Anpassungen.

Konkret kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass in Europa und den USA, wo es derartige verhängte Maßnahmen gab, die Mortalität nur um 0,2 Prozent verringert worden ist. Als Vergleichswert werden unter anderem Länder herangezogen, in denen es keine derart strikten Maßnahmen gegeben hat, sondern zum Beispiel lediglich Empfehlungen.

Gründe werden in Studie selbst angeführt

Ein Grund dafür könnte sein, dass die Bevölkerung in Zeiten einer Pandemie selbst vorsichtig ist und Social-Distancing-Maßnahmen vornimmt, auch wenn sie nicht verordnet werden, wie die Studienautoren selbst in ihren Ausführungen angeben. Weitere mögliche Gründe für den fehlenden Unterschied sind laut den Ökonomen, dass verordnete Lockdowns nur einen Teil potenziell infizierender Kontakte einschränken. Dass sie die individuellen Hygienemaßnahmen nicht regulieren. Und dass die Gesellschaft in der Folge bei einem erkennbar verringerten Risiko wieder unvorsichtiger agieren und unbeabsichtigte Auswirkungen eine Rolle spielen könnten.

Mit letzterem ist etwa gemeint, dass sich Menschen durch Ausgangsbeschränkungen an Orten aufhalten mussten, die möglicherweise eine höhere Infektionsgefahr als öffentliche Orte aufwiesen.

Verordnungen versus öffentliches Bewusstsein

In erster Linie wirft die Studie laut APA-Faktencheck die Frage auf, ob nachweislich effektive Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, Versammlungsbegrenzungen oder gezielte Schließungen von Ausbildungs- oder Arbeitsstätten, von der Politik verordnet werden müssen oder von einer Gesellschaft selbst angewandt werden. Dass solche Maßnahmen eine Auswirkung haben, wird in der Studie gar nicht bezweifelt.

Da die Studie nur die erste Welle berücksichtigt und zu dieser Zeit die Pandemie eine völlig neue Situation für die Menschheit war, können daraus nur schwer allgemeine Schlussfolgerungen getroffen werden. Ob sich Menschen im weiteren Verlauf der Pandemie ohne Verordnungen ähnlich vorsichtig verhalten hätten, hat sich die Studie nicht angesehen. Abseits der Lockdowns in der ersten Welle gingen viele Länder in Folge zu unterschiedlichen Zeitpunkten und Konditionen sowie für unterschiedliche Dauer in weitere Lockdowns.

Die Verkürzung, dass Lockdowns laut der Studie generell keine Leben retten, ist dadurch laut Faktencheck unzulässig. Die Studienautoren räumen ein, dass es in der ersten Welle schwierig war, zwischen dem Effekt von Lockdowns und dem Effekt von öffentlichem Bewusstsein zu unterscheiden.

Faktencheck übt Kritik an Autoren

Derartige Lockdown-Studien sind schwierig durchzuführen, selbst Meta-Analysen. Darauf wiesen auch in der Vergangenheit mehrere Experten hin. Ein Lockdown erfolgt nicht immer in derselben Art und Weise, die Zusammensetzung unterschiedlicher nicht-pharmazeutischer Maßnahmen variiert stark. In der aktuellen Studie werden Lockdowns so definiert, dass mindestens eine nicht-pharmazeutische verpflichtende Maßnahme beschlossen wurde. Dazu gehören etwa Schulschließungen, Bewegungseinschränkungen oder das Aussetzen des internationalen Reiseverkehrs.

Nach Veröffentlichung der Studie wurden einige Aspekte stark kritisiert. So wurde sie etwa in keinem wissenschaftlichen Magazin sondern auf der Homepage der Johns-Hopkins-Universität veröffentlicht, wodurch auch kein Peer-Review notwendig ist. Auch die Auswahl der analysierten Studien wurde von Experten kritisiert, etwa vom Ökonomen Andreas Backhaus von der Ludwig-Maximilians-Universität München auf Twitter.

Lockdowns als Notlösung

Generell sei es kein Geheimnis, dass Lockdowns sehr harte Eingriffe sind und vermieden werden wollen. Selbst die WHO weist darauf hin, dass, obwohl Lockdowns das Infektionsgeschehens verringern könnten, dennoch zahlreiche negative Auswirkungen möglich seien. Die Gesundheitsorganisation erkennt allerdings an, dass einige Länder zu gewissen Zeitpunkten keine andere Wahl gehabt hätten, als derartige Maßnahmen einzuführen, um sich Zeit zu erkaufen.

Es gibt aber tatsächlich Hinweise, dass Lockdowns in der ersten Welle sogar spezifische positive Auswirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Bevölkerung hatten. Erst im Jänner dieses Jahres kam eine Studie zu dem Schluss, dass die durch Lockdowns verbesserte Luftqualität zu Beginn der Pandemie hunderte Menschenleben in Europa gerettet hat. Ursache seien dabei etwa die Einschränkung des Reiseverkehrs oder die Schließung von Arbeitsstätten gewesen.

Bereits zu Beginn des vergangenen Jahres hat eine ähnliche Lockdown-Studie für Aufregung gesorgt und diesen harten Maßnahmen wenig zusätzliche Effektivität bescheinigt. Auch diese Ergebnisse des Gesundheitswissenschaftlers John Ioannidis wurden damals wegen der zugrunde liegenden Methodik kritisiert.