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Maria Sbytova – stock.adobe.com
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Kleinkinder

Beruhigung mit Smartphone als Teufelskreis

Trotzigen Kleinkindern ein Smartphone oder Tablet zur Beruhigung in die Hand zu drücken, kann in Stresssituationen eine schnelle Lösung sein – die nach hinten losgehen kann, wie eine Studie zeigt. Kinder, die häufig auf diese Weise beruhigt werden, versäumen es, eigene Fähigkeiten zur Steuerung ihrer Gefühle zu entwickeln. Und auch die Eltern geraten in einen Teufelskreis.

Viele Eltern kennen die eine oder andere Szene: Gerade wenn das Abendessen auf dem Herd anzubrennen droht, die Schlange im Supermarkt immer länger wird oder ein wichtiges Telefonat ansteht, hat das Kind einen Trotzanfall. Smartphones und Tablets sorgen in Situationen wie diesen zwar kurzfristig für Entspannung, auf lange Sicht können dadurch aber weitaus größere Probleme entstehen.

Denn gerade die frühe Kindheit ist ein entscheidendes Zeitfenster für die Entwicklung von emotionalen und kognitiven Prozessen höherer Ordnung. Zu diesen gehören die exekutiven Funktionen, mit denen Menschen ihr Verhalten steuern. Eine davon ist die Fähigkeit zur Emotionsregulation, also zur Steuerung der eigenen Gefühle. Diese Fähigkeit ermöglicht es Kindern, ruhig und konzentriert zu bleiben und flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren. Nicht zuletzt für den späteren Schulerfolg sei sie deshalb sogar wichtiger als Intelligenz, schreibt das Forschungsteam, dessen Studie nun im Fachjournal „JAMA Pediatrics“ veröffentlicht wurde.

Persönlichkeit entwickelt sich

Diese Prozesse entwickeln sich im Alter zwischen zwei und fünf Jahren – jenem Zeitraum also, in dem sich auch der Frontallappen im Gehirn entwickelt: der Sitz der individuellen Persönlichkeit und des Sozialverhaltens. Beeinflusst wird die Entwicklung auch von der Umgebung, in der das Kind aufwächst. Laut dem Forschungsteam um Jenny Radesky, Ärztin an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Universität Michigan, bekommen Kleinkinder, die häufig mit digitalen Medien beruhigt werden, aber nicht genügend Gelegenheiten, die Fähigkeit zur Emotionsregulation zu entwickeln.

Die Ergebnisse der Studie zeigten einen Zusammenhang zwischen der häufigen Verwendung von digitalen Medien zur Beruhigung und einer verstärkten emotionalen Dysregulation bei Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren. Dieser Fachbegriff bezeichnet Schwierigkeiten, die eigenen emotionalen Reaktionen zu kontrollieren. Anzeichen dafür können plötzliche Stimmungswechsel und erhöhte Impulsivität sein.

Buben sind stärker betroffen

422 Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren und deren Eltern nahmen zwischen August 2018 und Jänner 2020 an der Studie teil. Die Eltern füllten in regelmäßigen Abständen verschiedene Fragebögen aus, einerseits zum Mediennutzungsverhalten des Kindes und der Familie, andererseits zum Verhalten und der Entwicklung der Kindes. Das Forschungsteam analysierte die Antworten dahingehend, wann und wie oft Smartphones und Tablets als Beruhigungsmittel eingesetzt wurden, und ob es Verbindungen zu Anzeichen von emotionaler Dysregulation gibt.

Besonders ausgeprägt war der Zusammenhang zwischen Mediennutzung zur Beruhigung und emotionaler Dysregulation bei Kindern, die ohnehin eher impulsiv und besonders aktiv waren. „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Verwendung von digitalen Geräten zur Besänftigung unruhiger Kinder vor allem für diejenigen problematisch sein kann, die bereits Probleme mit emotionalen Bewältigungsstrategien haben“, so Erstautorin Radesky in einer Aussendung. Ebenso zeigte sich, dass der Zusammenhang bei Buben stärker ausgeprägt war als bei Mädchen.

Verlockend auch für Eltern

Das Forschungsteam rät jedenfalls von Smartphones und Tablets als schnelle Lösung in Stresssituationen ab. „Deren Verwendung zur Beruhigung von Kleinkindern mag wie eine harmlose, vorübergehende Lösung erscheinen, um Stress zuhause zu reduzieren. Es kann aber langfristige Folgen haben, wenn dies zur regelmäßigen Beruhigungsstrategie wird“, so Radesky.

Gerade die Kindergartenzeit sei eine Entwicklungsphase, in der Kinder mit großer Wahrscheinlichkeit Wutanfälle, Trotz und starke Gefühle zeigen. Dies mache den Einsatz von digitalen Geräten natürlich verlockend, so die Medizinerin. Die damit verbundene „unmittelbare Entspannung“ motiviere nicht nur Kinder, sondern auch Eltern, diese Strategie beizubehalten: Je häufiger Smartphones und Tablets in Stresssituationen genutzt werden, desto weniger Übung haben nicht nur die Kinder, sondern auch deren Eltern in der Anwendung anderer Beruhigungsstrategien.

Gelegentlich und in Ausnahmesituationen sei die Nutzung von digitalen Medien zur Beruhigung und Ablenkung auch für Kleinkinder vertretbar, räumt Radesky ein. Wichtig sei aber, dass Smartphones und Tablets nicht zum Beruhigungsmittel erster Wahl werden. Die Ärztin rät, die Kindern dabei zu unterstützen, eigene Fähigkeiten zur Emotionsregulation zu entwickeln.

Wie fühlt sich das Kuscheltier?

So habe etwa jedes Kind eigene Vorlieben, welche Arten von Sinneseindrücken es beruhigen. Dies könne eine feste Umarmung, Musik oder auch das Zerdrücken von Knetmasse mit der Hand sein. Weiters rät die Wissenschaftlerin Betreuungspersonen dazu, Gefühle zu benennen und mit dem Kind darüber zu sprechen, was man bei Emotionen wie Wut und Zorn tun kann. Denn wenn Eltern die Gefühle des Kindes benennen, helfen sie dem Kind nicht nur, diese einzuordnen, sondern sie zeigen ihm auch, dass es gesehen und verstanden wird.

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Gefühle benennen, anstatt von ihnen abzulenken, rät die Kinderärztin

Radesky empfiehlt zudem, Kindern Möglichkeiten anzubieten, wie sie aggressive Gefühle auf andere Weise abbauen können, etwa: „Hauen tut weh, du kannst stattdessen auf den Polster schlagen.“ Ist wieder Ruhe eingekehrt, biete sich auch an, das Lieblingskuscheltier in ein Gespräch über den Umgang mit Gefühlen einzubeziehen: Wie fühlt sich das Kuscheltier und was kann es tun, wenn es wütend ist?

„Regelmäßig angewandt helfen alle diese Methoden Kindern, sich selbst besser zu verstehen und mit ihren Gefühlen umzugehen“, sagt Radesky – vorausgesetzt die Betreuungsperson bleibe ruhig, auch wenn das Kind trotzt und wütend ist. Ablenkungsstrategien, wie der Einsatz von Smartphones und Tablets, lenken das Kind hingegen von seinen Gefühlen ab – und verhindern den Aufbau von Fähigkeiten zur Emotionsregulation, die ein Leben lang halten.