Eine Frau im Business-Outifit blickt nach rechts, im Schattenriss ein Schatten einer Superheldin
pathdoc – stock.adobe.com
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Kommunikation

Geschichten erzählen in der Wissenschaft

Wissenschaftliche Erkenntnisse sind überlebenswichtig. Das ist spätestens seit der Coronavirus-Pandemie deutlich. Doch viele Menschen sind nicht ernsthaft an Wissenschaft interessiert. Wie kann man ihr Interesse wecken? Anhänger des narrativen Journalismus raten dazu, Wissenschaft als Geschichte zu erzählen – und Forschende auf ihrer „Heldenreise“ zu begleiten.

Als die Ehrenmitglieder der US-amerikanischen National Academy of Sciences 1991 ihre jährliche Wahl zur Mitgliedschaft abhielten, geschah etwas Unerwartetes. Es wurde über Carl Sagan abgestimmt. Ein Astronomieprofessor an der Cornell University, der an NASA-Robotermissionen mitarbeitete, der die wissenschaftliche Zeitschrift „Icarus“ herausgegeben und die Wissenschaftsfernsehserie „Cosmos“ erschaffen hat. Der Mann, der Millionen Menschen weltweit mit seinen wissenschaftlichen Erzählungen berührt hatte und als Gesicht der Wissenschaft selbst galt, wurde in sämtlichen Abstimmungsrunden abgelehnt. Die Begründung? Ein populärer, sichtbarer Wissenschaftler ist ein schlechter Akademiker, hieß es.

Die Ablehnung, die Sagan zeitlebens aus Akademikerkreisen entgegenschlug, ging als „Sagan-Effekt“ in die Wissenschaftsgeschichte ein. Sagan war ein Geschichtenerzähler. Er baute auf Emotionen, Alltagsrelevanz und Verständlichkeit – das scheinbar genaue Gegenteil von Wissenschaft. Aber seine Idee, Wissenschaft als Geschichte an die breite Masse zu bringen, funktionierte damals wie heute. Das ist wissenschaftlich belegt.

Der Astronom Carl Sagan 1986 bei einem Vortrag
ASSOCIATED PRESS
Der Astronom Carl Sagan 1986 bei einem Vortrag

Wie Geschichten auf unser Hirn wirken

Geschichten wirken auf das Gehirn. Das haben der israelische Neurowissenschaftler Uri Hasson und sein Forschungsteam bereits 2010 herausgefunden. Sie untersuchten die Gehirnaktivitäten ihrer Probanden und Probandinnen in einem fMRT-Scanner. Solange sie ihnen reine Informationen lieferten, aktivierten sich nur die beiden Sprachzentren des Gehirns.

Sobald aber den Versuchspersonen die Informationen als Geschichte erzählt wurden, stellten sich die Gehirnaktivitäten des Zuhörers auf die des Geschichtenerzählers ein, sie spiegelten sich und es aktivierten sich zahlreiche andere Gehirnbereiche: Handelte eine Geschichte zum Beispiel von einer Joggingrunde im Park, sprang der motorische Kortex an. Ging es um den Geruch von frisch geschnittenem Gras, aktivierte sich der Bereich, der für den Geruchssinn zuständig ist – als würden die Zuhörer die Erzählung selbst miterleben.

Ö1 Radiokolleg

„Storytelling in der Wissenschaft“: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4

Wenn wir Geschichten hören, steigen außerdem unsere Dopamin- („Botenstoff des Glücks“), Oxytocin- („Liebeshormon“) und Cortisolwerte („Stresshormon“) im Blut, wie der Neuroökonom Paul Zak feststellte. Deswegen würden Menschen aufmerksamer zuhören und sich die Erzählungen und darin transportierte Inhalte besser merken. Wird eine Geschichte gut und spannend erzählt, identifizieren sich die Zuhörerinnen und Zuhörer so stark mit den Figuren, dass sie deren Gefühle noch lange Zeit nach dem Konsum nachempfinden. Das funktioniere laut Zak besonders gut bei der Heldenreise.

Forschende auf Heldenreise

Bei der Heldenreise handelt es sich um eine Erzählstruktur, die vom amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell definiert wurde. Eine Hauptperson durchläuft zwölf bis 17 klar strukturierte Stationen: Sie verlässt wegen eines Problems die bekannte Welt, überwindet Hindernisse, trifft Verbündete und Feinde und kommt nach einer großen Prüfung verändert zurück.

Diagramm einer typischen Heldenreise
Public Domain
Diagramm einer typischen Heldenreise

Von „Star Wars“ über „Findet Nemo“ bis hin zur ältesten bekannten Geschichte der Menschheit, dem Gilgamesch-Epos, sie alle sind nach diesem Erzählmuster aufgebaut. Auch im Journalismus wird schon lange mit dieser vertrauten Struktur gearbeitet. Aber nur selten in der Wissenschaftsberichterstattung.

Emotionen als Herausforderung

Die Wissenschaft tut sich schwer mit Emotionen – und oft auch die Berichterstattung darüber. Warum? Erzählte Wissenschaft birgt Gefahren. Komplexe Details und Nuancen könnten verloren gehen und Erkenntnisse grob missverstanden werden. Studien zeigen beispielsweise, dass wir gar nicht anders können, als eine kausale Verbindung zwischen Ereignissen herzustellen. Passiert B nach A, urteilen wir instinktiv, dass B sich wegen A ereignet hat, selbst wenn das gar nicht stimmt.

Das zeigt sich auch in der Pionierarbeit des österreichisch-deutschen Psychologenduos Fritz Heider und Marianne Simmel aus dem Jahr 1944. Die beiden spielten ihren Probandinnen und Probanden ein Video mit drei Formen vor: einem großen Dreieck, einem kleinen Dreieck und einem kleinen Kreis, die sich über den Bildschirm bewegten (siehe YouTube-Video).

Als die Versuchspersonen das Gesehene objektiv beschreiben sollten, erzählten sie stattdessen eine Liebesgeschichte. Das kleine Dreieck und der Kreis seien von dem großen Dreieck angegriffen worden, es habe einen Kampf gegeben, eine Verfolgungsjagd und einen Sieg. Menschen knüpfen also instinktiv Zusammenhänge, auch wenn es rein objektiv gar keine gibt.

Außerdem können Geschichten sehr manipulativ sein: Sie werden bewusst aus einer einzigen Perspektive heraus erzählt, sind subjektiv und können Informationen emotional verzerren, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Der US-amerikanische Ex-Präsident Donald Trump ist dafür aktuell vielleicht das beste Beispiel. Seine Storys kommen an: Sie leben von kurzen Sätzen, vielen Wiederholungen und starken Emotionen. Populismus sollte nicht mit Populismus bekämpft werden, heißt es daher in den Wissenschaftsredaktionen.

Erzählen ist Empathie

„Aber gerade weil Populisten und Co. die Macht der Geschichten für sich entdeckt haben, darf die Wissenschaftskommunikation nicht darauf verzichten“, erklärt Manuel Stark. Er ist Reporter, Dozent für narrativen Erzähljournalismus und Mitgründer von Hermes Baby, einer Agentur für deutschsprachigen Erzähljournalismus.

„Erzählen ist Empathie“, erklärt er. Geschichten dienen nicht nur der Übermittlung von Fakten, sondern vor allem der Sensibilisierung. „Und zwar bei jenen, die keinen intuitiven Zugang zu Daten, Zahlen, Fakten, Wissenschaft haben.“ Wissenschaft soll nicht polarisieren, soll nicht in Gut und Böse, Held und Antiheld unterteilen, so der Journalist. „Aber Wissenschaft soll die Erkenntnisse mit der Emotion verbinden. Um überhaupt mal jemanden reinzuziehen und dann gemächlich immer komplexer zu werden und zur Komplexität zu stehen.“ Komplexität stehe nicht im Widerspruch zu einer guten Geschichte. Ganz im Gegenteil: „Sie ist unverzichtbarer Teil der Sache.“

Statt nur fertige Hochglanzforschungsergebnisse zu präsentieren, rät Manuel Stark dazu, die Leser und Leserinnen zu verführen, die Forschenden als Menschen sichtbar zu machen, auch ihre Misserfolge, Hoch- und Tiefpunkte sowie Zweifel mitzuerzählen – die gesamte Geschichte in all ihren Grautönen. „Am besten gelingt das ja auch durch einen Archetypen einer jeden Geschichte: eine Heldenreise zur Erkenntnis.“ Dadurch würden zeitliche und räumliche Abfolgen greifbar und es würde eine Multiperspektive hergestellt, die den langwierigen Prozess der wissenschaftlichen Arbeit nachvollziehbar macht. Das sei demokratiestärkend. Und je facettenreicher und vielschichtiger die Geschichte, desto eher spiegle sie die Wahrheit wider.

Auf den Vorwurf, dass Populismus nicht mit Populismus bekämpft werden sollte, sagt Stark: „Mit Erzähltechniken ist es wie mit jedem Werkzeug: Ich kann es missbrauchen, um zu polarisieren.“ Aber sei ein Hammer böse, weil Leute schon mit Hämmern umgebracht wurden?

Donald Trump vor einer US-Fahne beim Erzählen
AFP – ALON SKUY
Trump kann „gut“ Geschichten erzählen

Storytelling versus Geschichten erzählen

Aber was, wenn der „verdammt guten Geschichte“ die Wahrheit im Weg steht? Der Storytelling-Boom ist mit Händen greifbar. Alle müssen heute ihre Geschichte erzählen. In Unternehmen, beim Coaching, sogar an Universitäten. Vor allem die Marketingbranche setzt darauf: „Zuerst kommt die Story, dann das Produkt“. Der Begriff „Storytelling“ – der nichts anderes bedeutet als Geschichten erzählen – ist im deutschsprachigen Raum daher längst negativ besetzt, verstanden als Versuch, andere durch zu starkes Vereinfachen zu manipulieren, um eigene Interessen durchzusetzen.

„Dass Wissenschaftskommunikatoren plumpes Storytelling ablehnen, verstehe ich. Tue ich auch“, erklärt Manuel Stark. Im Storytelling würden Menschen auf Schablonen reduziert, um redaktionelle Thesen besser zu vermitteln und systemgültige Aussagen zu kreieren. Genau das dürfe Wissenschaftsjournalismus nicht tun. „Eine gute Geschichte ergründet Ambivalenzen. Ist vielschichtig und lässt sich in keine Schablone pressen. Eine gute Geschichte ermöglicht uns eine innere Entwicklung. Und zwar eine, die uns nicht vom Autor aufgezwungen wird.“

Das „Confirmation Bias“-Phänomen

Fakt ist: Meinungsbildung funktioniert auch ohne Information oder aller Information zuwider. Haben Menschen erst einmal eine Weltanschauung entwickelt, sind sie davon in der Regel kaum mehr abzubringen. Man spricht vom „Confirmation Bias“. Wir interpretieren neue Informationen stets so, dass sie mit unseren bestehenden Theorien, Weltanschauungen und Überzeugungen kompatibel sind. Deswegen gibt es gegen „Fake News“-Geschichten, die hoch emotional sind und sich in Windeseile verbreiten, kaum ein Gegenmittel. Selbst Erzähltechniken funktionieren dann nur mehr bedingt. Aber sie funktionieren.

Wir sind alle aus Sternenstaub gemacht, hat der Astronom Sagan einst gesagt und damit Millionen Menschen berührt und für Wissenschaft begeistert. Viele Forscherinnen und Forscher halten nichts von ihm und seinen Bestrebungen. Doch das Gegenteil von populärer Wissenschaft ist auf lange Sicht: unpopuläre Wissenschaft.