Höhlenmalerei und Handabdrücke in der argentinischen Höhle „Cueva de las manos“
AFP/FLORIAN VON DER FECHT
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Schrift

Wie der Mensch zu schreiben begann

Die Schrift hat das Leben stärker verändert als Computer, Smartphone und künstliche Intelligenz. Wahrscheinlich war sie die wichtigste Erfindung der Menschheit, meint Silvia Ferrara. Die Kulturtechnik sei aber nicht plötzlich vom Himmel gefallen. Ihre Wurzeln reichen laut der Expertin für antike Schriften viel weiter zurück als angenommen. Der Mensch hätte aber eigentlich auch ohne auskommen können.

Mit nur 26 Grundbuchstaben (ohne Umlaute und „ß“) lässt sich im Deutschen alles zu Papier bringen. Weltweit verwenden heute die meisten Menschen eine solche effiziente Alphabetschrift. Daneben haben sich aber auch deutlich kompliziertere Systeme gehalten, zum Beispiel das chinesische, das mehr als 3.000 Jahre alt ist. Welche Schrift überlebt, hängt also nicht nur von Effizienz ab, erklärt Silvia Ferrara von der Universität Bologna gegenüber science.ORF.at. Es gehe auch um Kultur und Identität: Wird die Kulturtechnik nicht von einer Gruppe gepflegt, gibt es keine kollektiven Bemühungen, verschwindet sie wieder – so wie das bei vielen der etwa 300 dokumentierten Schriftsystemen der Fall war.

Über die Forscherin

Silvia Ferrara war Mitte Oktober am Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften Kunstuniversität Linz in Wien (IFK) zu Gast und hat im Rahmen der Tagung „Messy Beginnings“ über ihre Thesen zur Entstehung der Schrift gesprochen.

Silvia Ferrara
Cristina Buldrini

Aber wann, wo und warum eigentlich hat der Mensch begonnen, irgendetwas aufzuschreiben, und in welcher Form? Diesen großen Fragen hat die italienische Schriftexpertin ihr bisheriges Forscherleben gewidmet, außerdem hat sie schon mehrere Sachbücher zum Thema verfasst, unter dem Titel „Der Sprung“ und „Die große Erfindung“ sind zwei davon auf Deutsch erschienen.

Viele Fragezeichen

Denn rund um den Ursprung der Schrift ist immer noch vieles unklar. Lange Zeit hielt man die Sumerer in Mesopotamien für die einzigen Erfinder. Die dort vor allem für Verwaltungszwecke verwendete Schrift gilt als Vorläufer vieler späterer Schreibformen, entstanden ist sie im späten vierten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Mittlerweile steht fest: Es gibt mindestens drei weitere davon unabhängige Anfänge, erklärt Ferrara: „Heute gehen wir von mindestens vier Erfindungen aus: Eine hat in Ägypten stattgefunden, die Schrift dort ist fast zeitgleich mit jener der Sumerer entstanden, eine weitere in China ungefähr 1.200 v. Ch., eine wurde in Mittelamerika von den Maya knapp vor Beginn unserer Zeitrechnung erfunden und natürlich die in Mesopotamien.“ Über zwei weitere Kandidaten – einen aus Nordindien und einen von der Osterinsel – werde derzeit in der Fachwelt noch diskutiert. Theoretisch könnten noch an vielen anderen Orten eigenständige Schriften entstanden sein.

Langer Weg zur Schrift

Egal, wie oft die Schrift nun wirklich erfunden wurde, Ferrara ist sich ziemlich sicher, dass alle Systeme nicht aus dem Nichts aufgetaucht sind, so wie das traditionellerweise häufig dargestellt wurde: „Als ich begonnen habe, mich mit der Erfindung der Schrift zu beschäftigen, dachte ich, dass ich mich auf die frühesten Zeugnisse konzentrieren sollte, ob sie nun aus Ägypten, Mesopotamien oder Mittelamerika stammen. Aber sehr bald kam ich zu dem Schluss, dass ich viel weiter zurückgehen muss. Dabei erkennt man, dass der Weg zur Schrift lang, kompliziert und chaotisch war.“

Rongorongo Dokument von der Osterinsel
ERC INSCRIBE, Roberta Ravanelli
Rongorongo-Inschrift von der Osterinsel – ob es sich dabei tatsächlich um eine eigenständige Schrift handelt, ist bis heute umstritten

Die italienische Schriftexpertin, die an der britischen Cambridge University Archäologie und klassische Philologie studiert hat, ist überzeugt, dass die Wurzeln der Schrift sogar bis in prähistorischen Zeiten reichen. Schon in steinzeitlichen Höhlenmalereien, die Hände, Pferde oder andere Tiere zeigen, könne man weitaus mehr als „nur“ die Anfänge der Kunst sehen. Es handle sich letztlich um symbolische Darstellungen, die Inhalte vermitteln sollen. Dieser Ausdruckswille sei auch grundlegend für die Entwicklung der Schrift.

Lesetipps

Neben ihren wissenschaftlichen Publikationen hat sie auch Sachbücher zur Menschheitsgeschichte veröffentlicht. Zwei davon sind auf Deutsch bei C.H. Beck erschienen: „Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit.“ (ISBN: 978-3-406-79782-8) und „Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften“ (ISBN: 978-3-406-77540-6)

Für Silvia Ferrara ist es daher offensichtlich, dass unsere Schriftlichkeit mit Bildern und grafischen Formen begann, insbesondere mit ikonografischen Darstellungen, die wie Logogramme funktionieren – das sind Symbole, die für ein Wort stehen. „Das sind Zeichen, die man überall findet, etwa auf der Toilette das symbolisierte Bild eines Mannes oder einer Frau, oder wenn man Musiknoten liest oder die Reinigungshinweise in einem Kleidungsstück“, so Ferrara.

Schon solche einfachen symbolischen Darstellungen, die von allen verstanden werden, enthalten die wichtigsten Grundzutaten für Schriftlichkeit. Wie genau der Übergang von grafischen Codes zu einer echten Schriftlichkeit abgelaufen ist, sei allerdings noch viel zu wenig erforscht, bedauert Ferrara. Dass es diese Entwicklung gegeben hat, lasse sich aber an einzelnen Schriften nachvollziehen. Sogar unser abstraktes Alphabet habe ikonographischen Wurzeln: Der Buchstabe A beispielsweise war ursprünglich dem Kopf eines Ochsens nachempfunden.

Schriftstücke entschlüsseln

In ihrer konkreten Forschungsarbeit bemüht sich Ferrara gemeinsam mit ihrem interdisziplinären Team, die Thesen zur Entstehung der Schrift auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Für ihr Großprojekt INSCRIBE hat sie vom Europäischen Forschungsrat einen hochdotierten Consolidator Grant erhalten. Dabei werden unter anderem bis heute nicht entzifferte antike Schriftzeugnisse aus dem östlichen Mittelmeerraum – sie stammen von den Inseln Kreta und Zypern – bis ins letzte Detail untersucht. In mühsamer Kleinarbeit versuchen die Forscherinnen und Forscher, den Zeitdokumenten aus dem zweiten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zumindest eine paar Erkenntnisse zu entlocken.

Tontafeln mit kypro-minoischer Schrift
Silvia Ferrara
Im Rahmen des INSCRIBE-Projekts untersuchen Ferrara und ihr Team unter anderem die kypro-minoische Schrift, die in der Bronzezeit auf Zypern verwendet wurde, bis heute ist sie nicht entziffert.

Anders als früher setze man dabei heute auf Teamwork, betont Ferrara. Außerdem kommen modernste computerunterstützte Methoden zum Einsatz, um etwa systematische Muster besser zu erkennen oder um alle Details der Artefakte in 3D-Modellen sichtbar zu machen. Dabei geht es nicht unbedingt um eine Entschlüsselung – der Inhalt bleibe mitunter für immer im Verborgenem, wenn es keine externen Referenzen oder Übersetzungshilfen gibt. Es kann auch eine Sprache verschriftlicht sein, die längst ausgestorben ist. Dennoch lasse sich einiges herausfinden: beispielsweise wie viele unterschiedliche Zeichen verwendet wurden und ob es sich wie bei den meisten Schriften um eine Silbenschrift handelt.

Entwicklungsschub durch Schrift

Dieser analytische Blick in die Vergangenheit soll helfen zu verstehen, wie der Mensch die erstaunliche Fähigkeit erworben hat, jeden erdenklichen Inhalt auch schriftlich festzuhalten. Ferrara ist übrigens überzeugt, dass der Mensch nicht nur aus praktischen Gründen zu schreiben begonnen hat, etwa für Verwaltungsaufgaben oder um Wissen festzuhalten. Vielmehr liege der Drang zu spontanem symbolischen Verhalten einfach in unserer Natur.

Tontafel mit Linear A-Schrift
Heraklion Archaeological Museum and the Greek Ministry of Culture and Sport, Archaeological Resources Fund
Linear A (Ausschnitt von Tontafel) ist neben der kypro-minoische Schrift und kretischen Hieroglyphen die dritte im Rahmen des INSCRIBE-Projekts untersuchte – bis dato nicht entzifferte – Schrift.

Für die Weitergabe von Wissen stellte die Schrift aber eine Revolution dar. Sie ist den Augen Ferraras tatsächlich eine der größten Erfindungen der Menschheit, und eine Voraussetzung für die meisten späteren Erfindungen. Zwingend notwendig war die Kulturtechnik dennoch nicht, betont die Expertin: „Die Erfindung der Schrift ist nicht so lange her. Der Homo sapiens hat davor wahrscheinlich schon mehr als 150.000 Jahre kommuniziert, die Schrift wurde aber erst vor etwa 5.000 Jahren erfunden. Können wir ohne Schrift leben? Natürlich können wir.“

Fest steht, die Erfindung der Schrift hat einen unglaublichen Entwicklungsschub ausgelöst – unsere Welt würde ohne sie ganz anders aussehen, in ihr gäbe es weder Bücher noch Computer. Aber egal wie wichtig die Kulturtechnik in der Vergangenheit war, für ihre Zukunft sieht es weniger rosig aus, befürchtet die Forscherin. Über kurz oder lang werde die Schrift verschwinden und durch Technologien, die mit ihrer Hilfe entstanden sind, ersetzt werden, so lautet Ferraras neue These, der sie ihr nächstes Buch widmet. Der Anfang vom Ende liege schon heute in der Luft.