Szenenbild „All About Eve“ (1950): Gary Mitchell, Anne Baxter, Bette Davies
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Welche Rolle Nebenrollen spielen

Fahrer, Sekretärinnen und persönliche Assistenten – in den meisten Filmen und Serien sind Nebenfiguren nur vorübergehend sichtbar, etwa als Stichwortgeber oder Komplizinnen. Für die Handlung übernehmen sie unter anderem Funktionen, die Hauptfiguren nicht belasten sollen. Welche Rolle Nebenrollen sonst noch spielen, beschreibt die Medienwissenschaftlerin Stefanie Diekmann in einem Gastbeitrag.

Sie sind überall. Und es ist nicht so, dass sie nicht gesehen werden. Vorübergehend, für einen Moment oder eine Szene, haben die Nebenfiguren das Recht auf Sichtbarkeit. Sie sind dann Begleiterscheinungen etc. Oder sie erfüllen die Funktion, Informationen oder Objekte in die Handlung hinein- oder wieder hinauszubefördern, womit Hauptfiguren nur selten belastet werden, es sei denn, das Hinein- oder Hinausbefördern von was auch immer ist ein wichtiges Element des Plots.

Zur Person

Stefanie Diekmann, Film- und Medienwissenschaftlerin an der Stiftung Universität Hildesheim forscht zu intermedialen Konstellationen, Dokumentarfilm, Interviews und neuerdings zu Nebenfiguren. Derzeit ist sie ifk Research Fellow am Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien.

Porträt Stefanie Diekmann
Jan Dreer

Sie treten auf. Und dann verschwinden sie. Zu den zentralen Eigenschaften von Nebenfiguren gehört auch die, dass sie ohne viel Aufwand aus einer Film- oder einer Bühnenhandlung entfernt werden können. Oft reicht dafür ein halber Satz, zum Beispiel „And Rosencrantz und Guildenstern are dead“ oder „Ugarte ist tot“, mit denen in Hamlet oder in Casablanca der Verbleib der entsprechenden Figuren geklärt wird.

In den meisten Fällen indes wird nicht einmal ein Satz benötigt. Die Nebenfigur ist Verbrauchsmaterial: so konstruiert, dass die Motivation ihres Handelns ebenso wenig zum Thema werden muss wie die Tatsache, dass sie irgendwann nicht mehr auftaucht. Der Chauffeur, die Mitreisende, die Rezeptionistin, der Handlanger etc. gehören einer Typologie des punktuellen Auftritts an. Aber auch dort, wo sie mehr als einen Auftritt haben, verschwinden die Nebenfiguren erstaunlich unauffällig, sofern sie nicht einfach am Schicksal der Hauptfigur teilhaben. (Im Theater heißt das die längste Zeit: Tod, sofern es sich um eine Tragödie handelt, und Heirat, wenn die Figuren Teil einer Komödie sind.)

“Secondary Characters“

In den meisten Fällen sind Nebenfiguren als sekundäre, relationale Erscheinungen angelegt. Wo sie auftreten, tun sie es im Gefolge oder im Umfeld einer Hauptfigur. Oder sie sind dem Umfeld, Parcours, Terrain zugeordnet, das von den Hauptfiguren durchquert werden muss. Nebenfiguren sprechen, wenn sie gefragt werden; sie führen aus, was ihnen aufgetragen wird; sie beobachten viel, kommentieren nur manchmal; und wenn sie Anstalten machen, eigenständig zu handeln, ist dies fast immer als eine Übertretung markiert. (An Filmen wie „Anatomie d‘une chute“ oder „Rapito“ aus dem Programm der letzten Viennale lässt sich das ganz gut studieren.)

Die Nebenfigur ist zweidimensional, das heißt: nicht auf Entwicklung angelegt, und die Konflikte, in die sie involviert ist, sind selten ihre eigenen. In den etablierten Hierarchien des Kinos und des Theaters sind Entwicklung, Konflikt, Backstory, Drama etc. Privilegien, die für die Hauptfigur reserviert bleiben. Nebenfiguren hingegen werden mit dem ausgestattet, was geeignet ist, ihre zweidimensionale Konzeption zu verbergen, zum Beispiel: Tics, besondere Kennzeichen, gelegentlich ein Leitmotiv. (Es spricht vieles dafür, die Auftritte von Nebenfiguren in musikologischen oder choreografischen Begriffen zu reflektieren).

Seltenes „Spotlight“

Hin und wieder erhalten die Nebenfiguren ein Upgrade, etwa im Fall von Saul Goodman, dem Anwalt aus „Breaking Bad“, der mit der Serie „Better Call Saul“ (2015-2022) zum Protagonisten avanciert. „Frasier“ (1993–2004; 2023) wäre eine vergleichbare Figur und „Renfield“ (2023) ein Beispiel dafür, dass die Auskopplung von Nebenfiguren auch aus einer Romanvorlage erfolgen kann, die hier “Bram Stokers Dracula“ ist und in dem Film „Mary Reilly“ (1996) Robert L. Stevensons „Dr. Jekyll and Mr Hyde“.

Vortrag

Stefanie Diekmann hält am 20. November, 18:15 am IFK einen Vortrag zum Thema „Busy Bodies. Supporting Characters in Classical Hollywood Cinema", dieser findet hybrid statt.

Auffallend ist, dass die Profilierung von Nebenfiguren meist auf der Folie von sehr bekannten Stoffen und Sujets erfolgt. In der Medienkultur der Gegenwart sind das häufig Serien; jedoch existiert eine Vorgeschichte, die im Theater mit Stücken wie „The Dresser“ (King Lear) oder „Ismene, Schwester von“ (Antigone) beginnt (die eingangs erwähnten Rosencrantz und Güldenstern erleben sogar zwei Auskopplungen), sich im Kino fortsetzt und dort mit Filmen wie „The Assistant“ (2019) auch auf Handlungszusammenhänge wie #MeToo bezogen sein kann.

Wenn eine Nebenfigur in einer Serie, in einem Film oder auf einer Bühne profiliert wird, dann meist, um davon zu erzählen, dass auch die Figuren aus der dritten Reihe Gefühle haben. Und Probleme, die mit dem Faktum ihrer begrenzten Sichtbarkeit verbunden sind. „I always wanted to scream“, sagt die Tänzerin aus dem Corps de Ballet in dem erfolgreichen Doku-Tanzstück „Véronique Doisneau" (2004), während es in dem Debütfilm „The Ordinaries“ (2022) eher darum geht, den Wunsch nach einem Upgrade zu ironisieren.

Wenig Interesse

Andere Perspektiven fehlen. Den Kunst- und Kulturwissenschaften ist zu Nebenfiguren bislang nicht viel eingefallen. Genauer: Sie haben wenig Interesse an ihnen gezeigt, was gewiss nicht daran liegt, dass es an Material mangelt.

Eine interessante Ausnahme ist der Film „Hardly Working“ (2022), den das Kollektiv „Total Refusal“ als Analyse von Hintergrundfiguren in Videospielen angelegt hat. Andere Versuche könnte sich mit der Verbindung befassen, die zwischen den Professionen von Nebenfiguren (oft: Diener, Sekretärinnen, Angestellte, Assistentinnen) und ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Plots besteht. Oder mit der Frage, wie Nebenfiguren eingesetzt werden, um zeitliche Abläufe, räumliche Aufteilungen und dramaturgische Zusammenhänge zu gestalten. Oder mit der Frage, wie der erste und der letzte Auftritt jener Gestalten, die eine gewisse Zeit lang im Spiel sind, dann aber unbemerkt daraus verschwinden, eigentlich organisiert sind.

Der Status von Hauptfiguren ist stabil. Der von Nebenfiguren ist es nicht. Sie sind vielmehr Statuswandler, Zwischenwesen und Bewohner*innen eines terrain vague, aus dem sie auftauchen und verschwinden. Ihre Bewegungen zu untersuchen könnte mehr als einen Versuch wert sein: zwischen On und Off, Funktionalität und Eigensinn, zwischen der Peripherie und der absoluten Wichtigkeit, die sie für einen kurzen Momenten erhalten können.