Forschungsboot nimmt Sedimentprobe im Meeresboden
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Erdgeschichte

Wie man das Urklima rekonstruiert

Die Erwärmung der Atmosphäre schreitet im Eiltempo voran – einen so raschen Wandel hat es auch auf geologischen Zeitskalen noch nicht gegeben. Doch woher weiß man, wie warm oder kalt es in Urzeiten war? Ein Blick in die Werkzeugkiste der Klimaforschung.

Die stellvertretende Direktorin des Klimawandeldienstes Copernicus, Samantha Burgess, ließ kürzlich mit diesem Satz aufhorchen: „Wenn wir unsere Daten mit denen des IPCC kombinieren, können wir sagen, dass dies [2023, Anm.] das wärmste Jahr der vergangenen 125.000 Jahre ist.“ Dass Burgess im Interview mit der Presseagentur Reuters gerade diese Vergleichsmarke gewählt hat, ist kein Zufall.

In dieser Zeit waren die Temperaturen auf der Erde für ca. 10.000 Jahre ungewöhnlich hoch, und diese „Eem-Warmzeit“ genannte Periode zwischen zwei Eiszeiten wird auch gerne als Modell herangezogen, wenn es um den Vergleich mit dem menschengemachten Klimawandel geht. Damals schmolzen große Teile des Grönlandeises ab, der Meeresspiegel lag sogar höher als heute. Unterschiede gab es auch, so war offenbar der Wärmetransport der Meere Richtung Arktis damals deutlich schwächer, gleichwohl herrschten während der Eem-Warmzeit ähnliche Temperaturverhältnisse wie heute.

Dass man das so genau sagen kann, liegt an dem Umstand, dass die Erde sozusagen Buch führt über die Klimaverhältnisse vergangener Zeit. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von natürlichen Klimaarchiven, wie zum Beispiel Baumringe, Eisbohrkerne, Sedimente von Seen und in der Tiefsee.

Klimaarchive lesbar machen

Wie man in diesen Archiven liest? Das Grundprinzip sei relativ einfach, sagt Marc Olefs, Leiter des Departments Klimafolgenforschung von Geosphere Austria. „Egal, ob es nun um Sedimente oder Eisbohrkerne geht: Aus der Tiefe der Ablagerung kann man zunächst das Alter ableiten, weil die Sedimentation bzw. Ablagerungsrate relativ konstant ist. Und dann braucht es eine chemische Analyse, um indirekt auf die Temperatur schließen zu können, klassisch ist etwa die Sauerstoffisotopenmethode.“

Bei dieser Methode greift man auf zwei unterschiedliche schwere Varianten des Sauerstoffs zurück, das „normale“ O16, das mit mehr als 99 Prozent den Löwenanteil stellt, sowie das etwas schwerere Isotop O18. Die beiden reagieren auf eine Erhöhung der Temperatur nicht ganz ident, ersteres verdampft eher als das schwere O18, weshalb das Verhältnis O16/O18 Auskunft über die Temperatur gibt.

Zwei Forscher transportieren Eisbohrkerne in Metallboxen
Die Archive in der Antarktis reichen rund 800.000 Jahre zurück

Bei Eisbohrkernen gibt es darüber hinaus noch die Möglichkeit, die Zusammensetzung der Atmosphäre zu bestimmen, und zwar über die im Eis eingeschlossenen Luftbläschen. Bei der alten Baumringdatierung sind solche chemischen Auswertungen nicht möglich, hier schließt man aufgrund der Wachstumsringe auf das Alter und die jeweiligen Klimaverhältnisse – woraus sich Unsicherheiten ergeben, die ein Team des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung kürzlich analysiert hat.

Das Ergebnis nach Entfernung des systematischen Messfehlers: Bäume „übertreiben“ im Vergleich zu den anorganischen Klimaarchiven, historische Warmphasen erscheinen im Baumstamm tendenziell wärmer, als sie tatsächlich waren. Das bedeutet im Umkehrschluss auch: Die gegenwärtige Erwärmung sticht noch stärker aus dem historischen Temperaturverlauf heraus.

Die Reichweiten der Messmethoden

2023 wird mit laut dem Klimawandeldienst Copernicus „so gut wie sicher das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen“. Womit direkte Temperaturmessungen gemeint sind. Heute werden diese Aufzeichnungen zu einem großen Teil per Satellit gemacht, in der Frühzeit der Wetterbeobachtung waren es bodennahe Stationen.

Der in Zeiten purzelnder Rekorde vielgenannte „Messbeginn“ fand in Österreich im Jahr 1768 im Stift Kremsmünster statt. Die Briten waren weltweit die ersten, der Central England Temperature Record (CET) besteht seit dem Jahr 1659. „Wenn wir geschickte Methoden anwenden, dann können wir mit 100 Temperaturmessungen die globale Mitteltemperatur definieren. Wobei wir uns immer auf einen Referenzzeitraum beziehen, das ist regional robuster und führt zu weniger Variabilität“, erklärt Marc Olefs.

Für klimatologische, insbesondere klimahistorische Fragen ist freilich auch die CET-Serie zu kurz, und hier kommen die indirekten Temperaturmessungen ins Spiel, die sogenannten Proxy-Daten der Klimaarchive. Baumringdaten reichen einige Tausend Jahre in die Vergangenheit, bei Eisbohrkernen liegt der Horizont bei 800.000 Jahren, am weitesten kann die Klimaforschung mit Hilfe von Tiefseebohrkernen in die Erdgeschichte blicken, nämlich 200 Millionen Jahre.

Fehler und Schwankungsbreiten

All diese Methoden sind freilich mit Schwankungsbreiten behaftet. Im Fall der Eem-Warmzeit vor 125.000 Jahren liegt diese bei plus minus 0,5 Grad. Wie der Weltklimarat IPCC im letzten Sachstandbericht berichtet (Kapitel 2.3.1.1.1.), kommen die verschiedenen Studien auf plus 0,5 bis 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit.

Schluss des IPCC: „Dass die globale Oberflächentemperatur [der Gegenwart, Anm.] für die letzten 125.000 Jahre beispiellos ist, ist wahrscheinlicher als dass sie es nicht ist.“ Das ist zugegebenermaßen etwas umständlich formuliert, aber letztlich die korrekte Übersetzung einer Wahrscheinlichkeitsaussage. Veröffentlicht wurde der Sachstandbericht im Jahr 2021, das heurige Rekordjahr wurde in dieser Bilanz also noch gar nicht eingepreist.

In diesem Kontext muss man die Aussage der Copernicus-Vizedirektorin Samantha Burgess lesen: Wenn nun die Eem-Warmzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit übertroffen wurde, muss sich die Klimaforschung früher oder später einen neuen Vergleichszeitraum suchen. Die nächstwärmere Periode findet sich im Pliozän, drei Millionen Jahre vor heute.