Die Gletscherforscherin Andrea Fischer auf einem Gletscher
Daniel Hinterramskogler
Daniel Hinterramskogler
Andrea Fischer

Gletscherforscherin, Abenteurerin, Eistänzerin

Die Gletscherforscherin Andrea Fischer ist Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres 2023. Mit dem Preis zeichnet der Klub der Bildungs- und WissenschaftsjournalistInnen ihr Engagement in der Wissenschaftsvermittlung aus. Schmelzende Gletscher sind ein besonders anschauliches Beispiel für die Klimaerwärmung, meint Fischer im ORF-Interview.

Darin erklärt sie auch, warum die Alpengletscherforschung weltweit einzigartig ist, warum Forscher „in erster Linie Abenteurer sind“ und sie selbst gerne auf dem Eis tanzt.

science.ORF.at: Frau Fischer, Gratulation zum Preis, der vor allem die Kommunikationsleistung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen auszeichnet. Was bedeutet er für Sie?

Andrea Fischer: Danke, ich freu mich sehr, weil der Preis auch zeigt, dass unsere Gletschermessungen nicht umsonst sind. Wissenschaft macht ja nur Sinn, wenn die Menschen sie auch wahrnehmen und sie irgendwie dazu dient, ihren Alltag zu verbessern. Auf den Gletschern tut sich gerade etwas sehr Ungewöhnliches. Die besonders starken Schmelzvorgänge der letzten Jahre öffentlich wirksam zu kommunizieren, ist ein sehr wichtiger Punkt in der Klimawandelkommunikation.

Andrea Fischer ist stvt. Leiterin des ÖAW-Instituts für Interdisziplinäre Gebirgs-forschung in Innsbruck. Seit Jahren schreibt sie gemeinsam mit dem Hydrographen Hans Wiesenegger das science.ORF.at-Gletscher-Tagebuch – hier der letzte Beitrag. Begonnen hat das Tagebuch der Glaziologe Heinz Slupetzky bereits 2003 – dem Jahr der ersten extremen Gletscherschmelze.

Die Folgen der Klimaerwärmung sind im Alltag vielfältig zu spüren. Warum sind Gletscher so besonders aussagekräftig?

Fischer: Zum einen, weil sie sehr klimasensitiv sind. Gletscher reagieren relativ rasch auf das Ansteigen der Sommertemperaturen und das Ausbleiben des Winterniederschlags. Zum anderen haben wir in Österreich durch Friedrich Simony, der in den 1840er Jahren den Dachstein zeichnete, ein sehr altes und gutes Material, um diese Änderungen nicht nur in Zahlen zu gießen, sondern auch im Bild zu zeigen. Und das macht die Kommunikation zu diesen Themen um vieles einfacher, weil ein Bild mehr sagt als sehr viele Worte.

Das Schlatenkees am Großvenediger (l.) im Jahre 1857 nach einer Zeichnung von Friedrich Simony, rechts zum Vergleich eine Aufnahme vom 11. August 1995.
APA
Das Schlatenkees am Großvenediger (l.) im Jahre 1857 nach einer Zeichnung von Friedrich Simony, rechts eine Aufnahme von 1995

Gletscherforschung hat in Österreich also eine lange Tradition …

Fischer: Ja, sie hat etwa im Jahr 1770 systematisch begonnen. Der Jesuit Josef Walcher sollte im Auftrag von Kaiserin Maria Theresia im Ötztal herausfinden, wie es zu den großen Überschwemmungen gekommen ist, die das Tal verwüstet hatten. Das lag an vorstoßenden Gletschern, die in der damaligen Eiszeit große Seen aufgestaut haben. Diese Seen sind dann gefährlich ausgebrochen, die Gletscher waren für die Alpenbewohner eine echte Bedrohung. Das hat sich nach 1870 etwas gebessert, nachdem die Gletscher wieder zurückgegangen waren. Wieder aufgeflammt ist das Interesse mit den vorstoßenden Gletschern der 1980er Jahre. Heute wissen wir, dass das ein Effekt des Global Dimming war – also der verstärkten Rußemission, die mit der industriellen Produktion einherging und zu vermehrter Wolkenbildung führte. Dadurch fielen mehr Niederschläge und die Einstrahlung wurde verringert. Das Vorstoßen der Gletscher hat aber nicht lange gedauert. Die Maßnahmen zur Luftreinigung haben rasch gegriffen und der Klimawandel aufgrund der CO2-Emissionen hat sich sehr rasch auf die Eisriesen ausgewirkt. Mit dem Extremsommer 2003 hat dann die extreme Gletscherschmelze begonnen, mit der wir uns heute beschäftigen.

Auszeichnung seit 1994

Der Klub der Bildungs- und WissenschaftsjournalistInnen vergibt seit 1994 jährlich den Titel des Wissenschaftlers bzw. der Wissenschaftlerin des Jahres. Er zeichnet damit u. a. die Fähigkeit aus, wissenschaftliche Arbeit einer breiten Öffentlichkeit verständlich vermitteln zu können.

Welchen Stellenwert hat die österreichische Gletscherforschung im internationalen Vergleich?

Fischer: Sie hat zwei Besonderheiten. Erstens zählen die Messreihen zu den längsten und kontinuierlichsten der Welt – etwa in der ehemaligen Sowjetunion wurden viele Messreihen aufgelassen, in Österreich nicht. Österreich stellt etwa ein Drittel der Gletscherdaten, die jemals gemessen wurden. Sie haben also erheblichen Anteil an dem, was wir heute über Gletscher wissen. Zweitens haben wir in den Alpengletschern Möglichkeiten, die weltweit einzigartig sind: Die Wegzeit von meinem Büro bis zum Eis beträgt nur etwa eine Stunde. Wir können somit Messungen durchführen, die viel Arbeit im Feld benötigen, die sonst nirgendwo auf der Erde möglich sind, weil man dort zum Teil zwei Wochen in Expeditionen mit Trägern zum Eis hingehen muss und den ganzen Logistiksupport, den wir hier in den Alpen haben, einfach nicht hat.

Die Gletscherforscherin Andrea Fischer am Jamtalferner
LISI NIESNER
Andrea Fischer am Jamtalferner

Dieser besonders nahe Untersuchungsgegenstand schmilzt Ihnen buchstäblich unter den Fingern weg – geht Ihnen das auch emotional nahe?

Fischer: Für Forscher ist es natürlich immer spannend, wenn es besonders starke Veränderungen gibt und Fragen auftauchen wie: Wie schnell finden sie statt? Welche Prozesse sind beteiligt? Forscher sind in erster Linie Abenteurer. Für Trauer, Sorge oder Angst ist in unserer Arbeit nicht der richtige Platz. Und ich finde, man sollte an diese große Herausforderung Klimawandel auch positiv herangehen. Es gibt nicht nur Probleme und Risiken, es werden auch neue Chancen entstehen. Insgesamt sind Krisen immer Chancen für eine Gesellschaft, Dinge zum Besseren zu verändern.

Wo könnten etwa solche Chancen liegen?

Fischer: Wir müssen wirklich neues Wissen schaffen, müssen lernen, mit dem Klimawandel umzugehen. Es werden einige Naturgefahren auf uns zukommen – Bergstürze, Murgänge, auf die wir uns vorbereiten müssen, etwa um die Verbauung bei Flüssen anzupassen. Wir müssen uns auch auf ausbrechende Gletscherseen vorbereiten, die seit 150 Jahren keine Rolle mehr gespielt haben.

Wissenschaft steht spätestens seit der Coronavirus-Pandemie im Zentrum vieler Auseinandersetzungen. Das gilt auch für die Klimaforschung. Sie melden sich dabei auch immer wieder zu Wort, etwa beim Thema Gletscherskifahren, das sie nicht per se als Problem erachten …

Fischer: Da stehen natürlich handfeste Daten dahinter. Ich habe zu Beginn meiner Forschungstätigkeit die Massenbilanzen von Gletscherschigebieten mit nicht bewirtschafteten Flächen verglichen und dabei herausgefunden, dass der Windabtrag des Schnees durch die Präparierung mit Pistengeräten etwas verringert wird. Es bleibt also etwas mehr Schnee auf den Pisten liegen als neben ihnen. Und natürlich bringt auch Schneemanagement etwas: Beschneiung, Schneetransport, Abdecken der Oberflächen. Also gibt es aus Sicht der Glaziologie keinen Grund, das Skifahren als schlecht für den Gletscher einzustufen. Natürlich kann man Gletscherskifahren als Störung der Natur empfinden. Das ist aber eine Wertediskussion. Und meine Rolle als Wissenschaftler ist es nicht, eine Wertediskussion zu befeuern, sondern die Grundlagen für diese Wertediskussion zu schaffen.

Wie sieht die Ökobilanz vom Gletscherskifahren im Verglich zum Schifahren in tieferen Lagen aus?

Fischer: Sie kann mindestens gleich gut sein. Auf den Gletschern braucht man weniger Kunstschnee. Es gibt keine Vegetation, die maßgeblich gestört werden kann. Das Hauptproblem für das Klima bei jeglicher Art von Tourismus ist die An- und Abreise – das gilt für den Skitourismus genauso wie für den Wellness- oder Öko-Tourismus. Natürlich sind Schneekanonen sehr energieintensiv. Aber auch ein Hallenbad und eine Sauna brauchen sehr viel Energie. Wenn das aus grünen Energiequellen stammt, kann das auch ein sehr ökologischer Tourismus sein. Nachhaltigkeit hat auch eine soziale Komponente, und Tourismus ist eine Möglichkeit für strukturschwache Regionen, nicht den Anschluss zu verlieren und die Kulturlandschaft dort zu erhalten.

Die Gletscherforscherin Andrea Fischer beim Vermessen auf einem Gletscher
Daniel Hinterramskogler
Fischer beim Vermessen auf dem Gletscher

Wie lange wird es die Alpengletscher noch geben und wie viel Zeit kann man ihnen durch Maßnahmen wie Abdecken noch „schenken“?

Fischer: Die neuen Modelle gehen davon aus, dass es in den Ostalpen bis 2100 nur noch zehn Prozent der jetzigen Gletscherfläche geben wird. Wir sehen aber an den letzten beiden Jahren, dass die Gletscher wahrscheinlich noch schneller schmelzen. Das Abdecken der Gletscher in den Gletscherskigebieten ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Man kann das Schmelzen ein wenig verzögern, nicht aber verhindern. Außerdem ist es sinnvoller, in den Gletscherskigebieten zu eisfreien Skigebieten überzugehen, die Stützen und Pisten in die eisfreien Gebiete schön langsam zu transformieren, weil wir in den Höhenlagen immer noch einen Schneedeckenvorteil haben. Diese Skigebiete sind wahrscheinlich zukunftsfähiger.

Was müsste eigentlich geschehen, damit die Gletscher in den Alpen wieder wachsen?

Fischer: Beim Einhalten des 1,5-Grad-Ziels könnte gegen Ende dieses Jahrhunderts wieder eine Abkühlung beginnen. Die Gletscher könnten dann im besten Fall wieder anwachsen. Sehr wahrscheinlich wird sich dieser Prozess aber verzögern, weil wir dieses Ziel kaum mehr erreichen können. Aber auch mit dem 2-Grad-Ziel könnten sich Gletscher wieder neu bilden. Allerdings werden sie vorher sehr wahrscheinlich vollständig abschmelzen. Das Landschaftsbild ändert sich davor schon drastisch, weil diese sehr dunklen Gletscher, wie wir sie in den letzten beiden Jahren erlebt haben, kaum mehr etwas zu tun haben mit diesen weißen, strahlenden Eisriesen, die von oben herunter leuchten – und die wir aus unseren Schulbüchern gewohnt sind.

Haben Sie sich schon in der Schule für Gletscher interessiert?

Fischer: Nein, ich bin für einen Bergmenschen erst relativ spät zum ersten Mal auf einem Gletscher gestanden, erst mit 17 oder 18, bin aber gleich irgendwie kleben geblieben. Denn Gletscher sind ein sehr faszinierendes und dynamisches Medium: Es rauscht und kracht die ganze Zeit, und ganz oben ist natürlich auch die Aussicht immer sehr speziell.

Und wie sind Sie akademisch kleben geblieben?

Fischer: Ich habe an der Karl-Franzens-Universität in Graz Physik und Umweltwissenschaften studiert. Und die Gletscherforschung ist die perfekte Schnittstelle zwischen Klima- und Umweltforschung. So finden wir etwa sämtliche jemals in die Luft emittierten Stoffe im Eis, in den Eisbohrkernen. An der Uni Innsbruck habe ich dann über Satelliten-Fernerkundung auf Gletschern dissertiert – in einer sehr tollen Gruppe, die zu den ersten abbrechenden Eisschelfe in der Antarktischen Halbinsel gearbeitet hat, damals wie heute wichtig für die Änderung des Meeresspiegels. Ich bin dann 2003 in die Feldforschung gegangen, also auf die Alpengletscher. Nach dem Motto: Wenn es dem Forscher zu wohl ist, geht er auf das Gletschereis tanzen. Dort kann man die Prozesse direkt messen, die sich in den Satellitenbildern durchpausen, und mit den Ursachen verknüpfen. Die Schmelze wird ja von einem chaotischen dynamischen System gesteuert, dem Wetter. So kann man viele Skalen und ihre Wechselwirkungen abdecken.

Die Gletscherforscherin Andrea Fischer hält in einer Gletscherspalte ein Stück Eis in der Hand
LISI NIESNER
Fischer mit dem Untersuchungsgegenstand

Sie haben vorhin gesagt, dass der nächste Gletscher nur eine Stunde von Ihrem Büro entfernt liegt – welcher Arbeitsplatz ist Ihnen lieber?

Fischer: Der Gletscher. Aber mit zunehmendem Dienstalter gehöre ich zu den Personen, die quasi zu Hause den Laden schupfen. Ich habe Gott sei Dank ein junges, sehr tatkräftiges Team, das den Großteil der Feldarbeit managt. Wir müssen ja pro Sommersaison an fünf österreichischen Gletschern Massenbilanzmessungen machen und Eiskernbohrungen durchführen. Die Kolleginnen und Kollegen sind jeden Tag am Eis, und ich versuche hier zu koordinieren und zu unterstützen und bin sehr froh, dass ich nach sehr vielen Jahren, in denen ich fast täglich im Gelände unterwegs war, nun auf einer etwas gelasseneren Seite sitze. Die Arbeit am Gletscher ist körperlich sehr anspruchsvoll, und ich wäre nicht mehr in der Lage, so zu forschen, wie ich das noch vor 20 Jahren konnte . Meine längste Tour im Gelände war eine 16-Stunden-Skitour.

Apropos jüngere Kollegen und Kolleginnen: Was wird die Gletscherforschung in den Alpen machen, wenn es keine Gletscher mehr gibt?

Fischer: Es wird weiter genug zu tun geben, denn in den Alpen wird es weiter Eis geben. Es wird allerdings anders aussehen und von Schutt bedeckt sein. Vielleicht gibt es auch einen Übergang zum Permafrost. Es gibt ja schon jetzt mehr Blockgletscher in Österreich als Gletscher, also ein Gemisch aus Schutt und Eis, das sich zu Tal bewegt. Diese Landschaftsformen sind noch sehr wenig erforscht. Sie werden rasant zunehmen, haben ein Gefahrenpotenzial und beeinflussen den Wasserkreislauf des Hochgebirges. Ich erwarte, dass in Zukunft daraus mehr Wasser kommt als aus den Gletscherresten. Und so wird uns die Arbeit auch in den nächsten Jahrzehnten nicht ausgehen. Und wir wollen auch beobachten, wie die Gletscher zum Ende dieses Jahrhunderts wieder vorstoßen.