Ein Mann mit Schutzmaske hält eine weitere Schutzmaske in der Hand
AFP – JOHAN ORDONEZ
AFP – JOHAN ORDONEZ
Maskenfrage

Mit Wissenschaft gegen Wissenschaft argumentieren

Schützen Masken vor Infektionen? Die wissenschaftliche Evidenz spricht dafür. In den sozialen Netzwerken entwickelte sich in der Pandemie aber schnell ein Streit zwischen eindeutigen Befürwortern und Gegnern. Eine neue Analyse zeigt: Beide Seiten argumentierten formal ähnlich – mit wissenschaftlichen Studien, Fachjargon und ausgetüftelten Kommunikationsstrategien.

Eine dieser Strategien nennt sich „prebunking“: Gemeint sind damit kurze Texte oder Videos, die etwa in sozialen Netzwerken vor Desinformation und Manipulation warnen, noch bevor Menschen darauf stoßen. „Prebunking“ gilt spätestens seit Covid-19 als eine Art Impfung gegen Fake News.

„Unglücklicherweise ‚impfen‘ die Verbreiter von Falschnachrichten ihre Leserinnen und Leser auf ähnliche Weise“, schreibt ein Team um Andrew Beers von der University of Washington soeben im Fachjournal „Science Advances“. D. h. auch sie warnen vor nachfolgenden Inhalten, die nicht auf ihrer Linie sind – und diskreditieren damit seriöse und glaubwürdige Forschungsergebnisse.

“Obsessives Interesse an der Wissenschaft“

Die Übernahme der „prebunking“-Strategie ist bei Weitem nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen seriöser und manipulativer Wissenschaftsvermittlung, sagt Andrew Beers; allem voran das Zitieren von Studienresultaten und das Verwenden eines Fachjargons, in dem es auch bei den Fake-News-Verbreitern vor „randomisierten Kontrollversuchen“ und „statistischer Signifikanz“ nur so strotzt. Und das ist nichts Neues, sagt Beers gegenüber science.ORF.at: „Wie ein Blick in der Geschichte zeigt, waren Verschwörungstheorie-Communities an wissenschaftlichen Studien und an der Sprache der Wissenschaft konstant und obsessiv interessiert.“ Dies gelte von den Vertuschern des Tabakrisikos über die Anti-Impf-Bewegung bis zu den Klimawandelleugnern.

Neu bei der „Maskenfrage“ in der Pandemie seien hingegen die Größenordnung und die Geschwindigkeit des Phänomens gewesen. „Über Masken gab es zu Beginn keine Art von Verschwörungsliteratur, egal in welche Richtung. Die Leute hatten darüber zuvor in den USA nicht gestritten“, so Beers. Die entsprechenden Ideen mussten also erst von Grund auf und innerhalb weniger Monaten entwickelt werden. „Das war eine einzigartige Gelegenheit zu untersuchen, wie sich öffentlicher Konsens zu einem Thema entwickelt, über das es zuvor kaum Material gab.“

Wissenschaft vs. Kommunikation in der „Maskenfrage“

Diese Gelegenheit packte das erst knapp vor Pandemiebeginn eröffnete Zentrum für eine informierte Öffentlichkeit an der University of Washington beim Schopf. Andrew Beers und sein Team untersuchten dabei zwei Prozesse: zum einen, wie sich in der Wissenschaft Konsens in der „Maskenfrage“ bildete – in einer Zeit, als die Evidenzlage noch dünn war -, zum anderen, was Wissenschaftskommunikatoren und -kommunikatorinnen daraus machten.

Bei ersterem zeigte sich der übliche Weg: „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchen ein Problem auszudiskutieren“, sagt Beers. Wie sie das machen, beschreibt eine Analyse der Online-Zitations-Datenbank Web of Science. Beers und sein Team durchforsteten die Datenbank nach den meistzitierten Studien zum Thema Masken im ersten Pandemiejahr 2020. Wie die Grafik zeigt, lassen sich diese rund 80 Studien drei Hauptgruppen zuordnen: Die erste beschäftigt sich mit physikalischen Eigenschaften von Masken; die zweite mit ihrem Beitrag zur Epidemiologie, also zur Verhinderung von Infektionen; die dritte mit einer Public-Health-Perspektive zur konkreten Anwendung von Masken, etwa in Spitälern und Haushalten. Die Analyse der Zitate von Maskenstudien in der Wissenschaft führt also zu einer Gliederung nach Themen.

„Wissenschaftskommunikatoren zitieren aber ganz anders, nämlich nach Standpunkten“, sagt Beers. „Auf der einen Seite alle Studien, die Masken befürworten, auf der anderen Seite alle, die das nicht tun – gleichgültig aus welchen Themenbereichen.“ Diesen Schluss zieht Beers aus dem zweiten Teil der aktuellen Analyse. Dabei untersuchte er mit seinem Team fünf Millionen Nachrichten auf Twitter (heute: X); konkret waren das Antworten auf offizielle Verkündungen von US-Gouverneuren, die mit dem Tragen von Masken zu tun hatten. Sehr oft waren in diesen Antworten Links oder Hinweise auf Studien enthalten, die als Beweise dafür oder dagegen dienen sollten.

Grafik zu den meistzitierten Masken-Studien
Andrew Beers et al, Science Advances 22.8.23
Unterschiedliches Zitierverhalten: Wissenschaft links, Wissenschaftskommunikation rechts (die Studie (1) ist die meistzitierte in beiden Bereichen, (2) und (3) stammen aus den Jahren 2010 bzw. 2015, also vor Sars-CoV-2; die Autorin der 2015-Studie hat sich danach mehrfach für das Tragen von Masken ausgesprochen.

Interessen: Maßstab für Glaubwürdigkeit

Der Vergleich der meistzitierten Studien aus der Wissenschaft und aus der Wissenschaftskommunikation zeigte, dass es sich überwiegend um die gleichen handelt – die aber sehr unterschiedlich verwendet werden. „Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind sehr besorgt um die eigene Disziplin, das eigene Handwerk, die eigenen Methoden, wenn sie zitieren – aber nicht darum, ob sie Beweise für einen Standpunkt sammeln. Bei Kommunikatoren ist das Gegenteil der Fall.“ Dies sei auch nichts Schlechtes, im Gegenteil. „Es ist toll, dass sie Beweise für einen Standpunkt suchen. Denn wenn man selbst eine Entscheidung treffen will, ist es gut, dass jemand die Wissenschaft durchstöbert und für eine Position argumentiert.“

Die „unglückliche Realität“ sei aber, dass das „die andere Seite“ genauso macht – letztlich komme es drauf an, wer mehr Glaubwürdigkeit besitzt. Und dafür gebe es Maßstäbe, etwa der Antrieb, der hinter der Veröffentlichung von Texten steht. „Wenn Wissenschaftsjournalisten den ganzen Tag Verschwörungstheorien veröffentlichen, werden sie ihren Job verlieren. Wenn das andere Personen machen und in den Sozialen Netzwerken Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können sie damit viel Geld verdienen“, so Beers. Aus Sicht der „anderen Seite“ wird das aber vermutlich kein Argument sein, denn sie betrachten die Wissenschaftskommunikation der „Mainstreammedien“ ja selbst als Geschäftsmodell mit Scheuklappen.

Kontext-Kollaps …

Deshalb lohnt ein Blick in die konkreten Studien, die beide Seiten zitieren. Am häufigsten ist das bei einer Studie vom April 2020 der Fall, als die Evidenz zum Maskentragen gerade zu explodieren begann. „Die Studie existiert wie in einer doppelten Form mit sich scheinbar komplett wiedersprechenden Schlüssen“, schreiben Beers und sein Team. Maskenbefürworter zitieren sie für ihre Sache, Maskengegner ebenso – allerdings ganz andere Stellen. Die Zitate sind also sehr selektiv.

Das gilt auch für eine weitere der am meisten zitierten Studien: Sie stammt bereits aus dem Jahr 2015, also aus der Zeit vor SARS-CoV-2, als es noch sehr wenig gesichertes Wissen zu der Frage gab, und sprach sich gegen den Einsatz von Stoffmasken im Gesundheitsbereich aus. Die Anti-Masken-Seite verwendete diese Studie oft als Kronzeugin – obwohl sich die Erstautorin Raina MacIntyre, eine australische Epidemiologin, danach in mehreren Folgestudien eindeutig für den Einsatz von Masken während der Pandemie aussprach.

… und Gegenstrategien

Das funktioniert nur, wenn die Studie aus dem Zusammenhang gerissen wird; im Fachjargon nennt sich das Kontext-Kollaps. Nicht-Fachleute können dabei die Information, die für eine anderen Gruppe hergestellt wurde (nämlich für Fachleute), nicht richtig einordnen. Manipulative Kommunikatoren und Kommunikatorinnen wiederum nützen genau das aus. Möglich wäre das – und hier schließt sich der Kreis – auch für die aktuelle Analyse von Andrew Beers und seinem Team. Deren Schluss könnte man böswillig auch mit den Schlagworten „Anti-Masken-Argumente genauso wissenschaftlich wie Pro-Masken-Argumente“ transportieren.

Was tun gegen diesen Kontext-Kollaps? „Gute Frage“, sagt Andrew Beers. „Wenn unsere Analyse wirklich viral geht, würde ich erst einmal schauen, was die Leute posten. Dann würde ich meinen Standpunkt kurz zusammenfassen – idealerweise in nur einem Satz – und dann veröffentlichen. Das ist gut, um ihn weiter in den sozialen Netzwerken zu verbreiten.“ Sollte die Sache völlig aus dem Ruder laufen, würde Beers die Verlage in die Pflicht nehmen: Sie könnten an die missbräuchlich verwendeten Studien zusätzliche Infoboxen anfügen, in denen die Autoren und Autorinnen die Zusammenhänge erklären und vor dem Missbrauch warnen. Die Infoboxen sollten gut sichtbar sein und nicht, wie in diesem Fall, versteckt unter den Fußnoten.

Konsens: Sozial konstruiert, aber nicht gleich glaubwürdig

Fakt ist: Auch im dritten Jahr nach Pandemiebeginn ist die auf strengen Vergleichsstudien beruhende Evidenzlage in Sachen Maskentragen dünn und nicht eindeutig, wie eine Übersichtsarbeit der Evidenzprofis von Cochrane vom März 2023 zeigt (die ihrerseits eingeordnet werden muss). Eindeutig waren hingegen die Konsense, die Befürworter und Gegner der Masken sehr schnell gefunden haben – beide sind „sozial konstruiert“, so die Grundannahme von Beers und seinem Team.

Das heiße aber überhaupt nicht, dass beide gleich glaubwürdig sind. Für welchen Konsens man sich entscheidet, sollte nämlich von der Diversität und der Stärke seiner Sicherheitsüberprüfung abhängen. Während sich auf der einen Seite Personen aus Wissenschaft und Journalismus befinden, die verschiedene Systeme zur Überprüfung von Wahrheit und Verantwortung entwickelt haben, handelt es sich bei der anderen Seite um eine „informelle Koalition von Verschwörungstheoretikern und Content-Schöpfern auf alternativen Plattformen“, die nur selten über einen wissenschaftlichen Hintergrund und einer Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit verfügen.

Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sollten sich laut Beers deshalb mehr darüber im Klaren sein, dass sie nicht nur in ihrer Community forschen und publizieren, sondern dass ihre Arbeit auch in der Öffentlichkeit verwendet wird. Der Frage will er sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen vom Zentrum für eine informierte Öffentlichkeit an der University of Washington nun auch längerfristig widmen. Die strittigen Themen gehen dabei nicht aus – von der Klimaerwärmung bis zur „extrem politisierten Frage“ nach der Gesundheitsversorgung von Transgender-Jugendlichen.